Leben mit Tourette Der ständige Kampf mit „Hildegard“

Zweibrücken · Wie ein Dreizehnjähriger den Schulalltag mit dem Tourette-Syndrom meistert.

 Felix (vorne in der Mitte) im Kreis von Mitschülern, seiner Klassenlehrerin und seiner Integrationsfachkraft.

Felix (vorne in der Mitte) im Kreis von Mitschülern, seiner Klassenlehrerin und seiner Integrationsfachkraft.

Foto: Nadine Lang

Es ist Montagmorgen an der Herzog-Wolfgang-Realschule plus in der Mozartstraße in Zweibrücken. Die 7a hat Deutschunterricht und Felix Hartmann, einer der Schüler in der Klasse der didaktischen Koordinatorin, Konrektorin Susi Würz, ist konzentriert bei der Sache. Das war jedoch nicht immer so, denn Felix  hat das Tourette-Syndrom, was ihm den Schulalltag zeitweise sehr erschwert hat.

Als Felix damals zur fünften Klasse an der Schule angemeldet wurde, da stand für Lehrerin Susi Würz fest, dass Sie ihn begleiten möchte, musste sich dafür aber selbst zunächst in die Thematik umfassend einlesen, denn das Tourette-Syndrom ist vielfältig. Es handelt sich um eine neuro-psychiatrische Erkrankung, die durch das gemeinsame Auftreten von motorischen und vokalen Tics gekennzeichnet ist und sich nicht steuern lässt. Zusätzlich versuchte sie die anderen Schüler aufzuklären, etwa in dem sie zum Verständnis einen Film geschaut hat.

„In dieser Schule wird Inklusion gelebt“, berichtet sie, was viel dem Engagement der Lehrkräfte zu verdanken ist, die sich eigen-initiativ tief mit der jeweiligen Thematik befassen. Inklusion bedeutet, jedem Kind, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, den gleichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

In der Anfangszeit zeigte sich „Hildegard“, wie Felix sein Tourette nennt, zunächst kaum. Er geht mit seiner Erkrankung offen um und erklärte zu Beginn seinen Mitschülern in einem Vortrag, was es damit auf sich hat, was in ihm vorgeht und was passieren kann. „Es war nicht schlimm, es zu erklären, ich wusste nur nicht, ob sie es glauben“, erinnert sich Felix.

Die Reaktion der Mitschüler war zunächst ganz unterschiedlich. Manche waren geschockt, andere wussten erst nicht, was es bedeutet, andere waren traurig darüber, aber alle haben ihn für seinen Mut bewundert. „Seine Mitschüler stehen heute voll und ganz hinter ihm. Als sie wussten, was es ist, haben sie ihn mitgetragen“, freut sich auch Jürgen Hartmann, Felix´ Papa, über die damals anschließende Entwicklung und ist zugleich dankbar, das die Schule ein derart großes Engagement zeigt.

Denn für die Eltern, die in der dritten Klassenstufe von Felix Erkrankung erfahren haben, startete mit der neuen Schule nicht nur ein neuer Lebensabschnitt sondern auch die Sorge, ob ihr Kind Anschluss findet. Und auch seine Mitschüler erinnern sich: „Ich fand es ein komisches Gefühl am Anfang, dann wurden wir Freunde und heute sind wir die besten Freunde“, erklärt Casey. Und auch für Lina war es zunächst neu: „Ich kannte das Tourette erst nicht, aber als ich es wusste, war es okay“. Heute sind die drei die besten Freunde.

Im darauffolgenden Schuljahr mussten in Folge einer Medikamentenumstellung dann alle erfahren, was es wirklich mit Felix macht, wenn „Hildegard“ zuschlägt. Bei ihm äußert sich das Tourette-Syndrom durch Kopfnicken, Zappeln, Schreiticks, Festhalten bis hin zu Schütteln und Schubsen – unkontrolliert, als wäre eine andere Person am Werk, die seinen Körper steuert.

Das Tourette nahm damals überhand und Schüler wie Lehrkräfte und nicht zuletzt Felix selbst waren am Anschlag. In diesem Moment zeigte sich: Inklusion ist selbst bei allem Wollen nicht immer umsetzbar. Eine schwierige Zeit, in der nicht klar war, ob Inklusion auf Biegen und Brechen umgesetzt werden kann oder Felix nicht doch auf eine Förderschule wechseln muss. Aber niemand wollte aufgeben und es wurde nach Lösungen gesucht.

Im nächsten Anlauf konnte er medikamentös so gut eingestellt werden, dass sich „Hildegard“ derzeit so gut wie gar nicht zeigt und ihm wurde Hilfe zur Seite gestellt: fortan begleitete ihn Jennifer Lemke als Integrationsfachkraft jeden Tag in die Schule. Eine Entscheidung, die Felix zu Beginn nur schwer annehmen konnte. „Es war schwierig zu verstehen und zu akzeptieren, dass sie zur Anfangszeit erst mal die Entscheidungen traf“, erinnert sich Felix. Heute muss sie für den 13-Jährigen keine Entscheidungen mehr treffen und ist nur noch begleitend an seiner Seite. Für Felix ist Jennifer Lemke eine wichtige Vertrauensperson, die ihm die Stabilität gibt, die ihm gut tut und obendrein ist sie für ihn so etwas wie ein Schwester-Ersatz.

Nun steht die nächste Veränderung an, die es für Felix zu meistern gilt: der Standortwechsel seiner Klasse nach den Sommerferien. Angst, dass sich „Hildegard“ da wieder zeigen könnte, hat Felix trotzdem nicht. „Ich bin da ganz ruhig und gelassen“, erzählt er. Und auch sein Berufswunsch ist schon ganz klar definiert: „Mein Traumberuf ist Tierpfleger.“ Weil in der Anwesenheit von Tieren - das hat Felix bereits mit den beiden Schulhunden und mit den Tieren in der Vater-Kind-Kur erleben dürfen - bleibt Hildegard einfach weg.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort