Diskussion um mehr Corona-Schutzmaßnahmen an Schulen Pirmasens Lüftungs-Vorbild für Zweibrücken?

Zweibrücken · Im Ringen um die beste Lösung für mehr Coronaschutz an Schulen hatte Zweibrücken die „Pirmasenser Bastel-Lösung“ schon ad acta gelegt. Doch Pirmasens berichtet von ersten guten Erfahrungen.

 Der Einbau der Lüftungsanlagen „Marke Eigenbau“ in Pirmasens stößt bundesweit auf Interesse.

Der Einbau der Lüftungsanlagen „Marke Eigenbau“ in Pirmasens stößt bundesweit auf Interesse.

Foto: Stadt Pirmasens

Während der Zweibrücker Stadtrat zwei Sitzungen stundenlang ergebnislos über einen Einbau von Lüftungs- oder Filtersystemen zum Coronaschutz in Schulen debattiert hat, sammelt Pirmasens bereits praktische Erfahrungen. Denn die Nachbarstadt hat bereits in allen ihren 450 Klassenräumen Lüftungsanlagen „Marke Eigenbau“ eingebaut. Der Merkur hat deshalb in Pirmasens nach den Erfahrungen gefragt – und auch die bundesweite wissenschaftliche Debatte zu dem Thema analysiert.

Verlockend erscheint bei dem „Pirmasenser Modell“, dass der Einbau mithilfe ehrenamtlicher Helfer pro Raum nur etwa 500 Euro Material kostete – und die Stadt schon nach der Test-Installation in einem Klassenraum „nach ersten orientierenden Messungen“ eine „gute Wirksamkeit“ behauptete. Deshalb hatte das Pirmasenser Modell zunächst auch im Zweibrücker Stadtrat viel Sympathie – bis Dr. Heinz-Ulrich Koch, Gesundheitsamtsleiter für die Südwestpfalz, Pirmasens und Zweibrücken, seine Skepsis über die Wirkung des Systems deutlich machte und kritisierte, in Pirmasens keine Daten hierzu erhalten zu haben. Auch bei Wissenschaftlern ist das „Mainzer Modell“, auf dem das Pirmasenser vom Grundprinzip her aufbaut, umstritten.

Wie funktioniert das Pirmasenser Modell technisch?

Die Stadt schreibt: „Eventuell virenbelastete Aerosole in der Atemluft steigen im Bereich der Schüler durch deren Körperwärme nach oben, wo sie von einem Ventilator über ein Rohrsystem abgesaugt und nach draußen transportiert werden. Frische Luft strömt durch ein gekipptes Fenster im vorderen Bereich des Klassensaales nach. Hierdurch wird hauptsächlich ,verbrauchte’ Luft durch Frischluft ersetzt, was im Alltag sehr viel effizienter funktioniert als eine Corona-bedingte Stoßlüftung alle 20 Minuten, bei der weitaus mehr als nur die notwendige Luftmenge ausgetauscht wird. Dies führt zu einer starken Auskühlung des Raumes (darüber haben Schüler und Lehrkräfte bisher geklagt).“ Anders als beim Mainzer Modell setzt Pirmasens auf haltbarere Metall- statt Stoffrohre – und die nach oben steigende warme Luft wird nicht über regenschirmförmige Hauben über jedem Schülertisch abgesaugt, sondern nur über sieben Ventile (eins oberhalb jeder Tischreihe). Schalldämpfer machen die Pirmasenser Anlage deutlich leiser.

Was ist die Kritik am Mainzer und Pirmasenser Modell?

Das vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie (MPI) entwickelte Mainzer Modell ist nach einer Studie des MPI sehr effektiv und beseitige etwa 90 Prozent der Aerosole aus der Klassenraumluft. Doch Raumlufttechnik-Professor Christoph Kaup von der Hochschule Trier (Umweltcampus Birkenfeld) lässt kein gutes Haar an dem Mainzer Modell. Seine wichtigsten Kritikpunkte: Virenbelastete Aerosole seien nicht immer in der Auftriebsströmung über einer Person, sie könnten sich durch verschiedene Faktoren (wie Sprechen, Niesen oder Bewegung von Schülern) auch durch Querströmungen im ganzen Raum verteilen, dies lasse der MPI-Test mit Dummys außer Acht. Der Frischluftstrom durch das gekippte Fenster sei einerseits zu gering für den gewünschten Effekt, andererseits kühle ein Raum im Winter bei ständig gekipptem Fenster schneller aus als bei Stoßlüftung. Kaup empfiehlt deshalb übliche Raumlufttechnik-Anlagen, anstatt Steuergeld für unprofessionelle „Lösungen“ auszugeben. Kritiker spekulieren, dass diese Empfehlung auch dadurch motiviert sein könnte, dass Kaup Geschäftsführender Gesellschaft eines Klimatechnik-Herstellers ist. Allerdings haben sich seiner Kritik auch Professoren der TU Berlin, der RWTH Aachen, der Technischen Hochschule Mittelhessen und der Technischen Hochschule Mittelhessen angeschlossen.

Wie sind die bisherigen Erfahrungen in Pirmasens?

Obwohl der Präsenzunterricht in den Grundschulen schon seit 22. Februar wieder läuft, ist Pirmasens noch zurückhaltend mit der Bewertung des Erfolgs der Anlage. Das Prüf- und Forschungsinstitut Pirmasens (PFI) begleitet das Projekt wissenschaftlich. Abteilungsleiter Benjamin Pacan mailte auf Merkur-Anfrage: „Wir führen bis Ende dieses Monats, nach Absprache mit dem Leiter des Gesundheitsamtes Herrn Dr. Koch, Messungen zur Wirksamkeit durch. Aussagefähige Messergebnisse können nur im Präsenzunterricht und unter Berücksichtigung der Einflussparameter Klassensaalbelegung und Wettersituation (Temperatur, Luftfeuchtigkeit, etc.) ermittelt werden und das braucht seine Zeit. Erste orientierende Messungen haben ergeben, dass die Konzentrationen an Kohlendioxid mit einer Abluftanlage nach dem Pirmasenser Model bei ca. 1000 ppm gehalten werden können. (...) Deutlich schwieriger ist es, den Einfluss der Lüftung auf die Konzentration der Aerosole zu bestimmen, da derzeit noch nicht feststeht welcher Aerosolgröße für die Virusübertragung relevant ist. Dazu ist es auch nicht einfach, feste Mikropartikel (aus anderen Quellen) von ,flüssigen’ Aerosolen (,Mikrotröpfchen’) zu unterscheiden. Hier müssen wir also noch länger und intensiver untersuchen, um aussagefähige Ergebnisse zu erzielen.“

Der Pirmasenser Baudezernent, Bürgermeister Michael Maas (CDU), sagte am Montag dem Merkur: „Wir haben bislang grundsätzlich positive Erfahrungen gesammelt.“ Kälte-Probleme durch das gekippte Fenster gebe es nicht. Auch bei der entscheidenden Aerosol-Konzentration seien die Erfahrungen „bisher gut“. Allerdings habe man erst seit dieser Woche Gelegenheit, das System auch mit größeren Schülern zu testen – hier seien andere Messwerte vorstellbar, „weil die Exhalation anders ist“. Überhaupt sei der Stadt die sorgfältige wissenschaftliche Begleitung sehr wichtig: „Wir sind mit Schülern unterwegs, da haben wir eine große Verantwortung.“ Wenn belastbare Zahlen vorliegen, würden diese auch veröffentlicht.

Ist die vom PFI genannte Reduktion der CO2-Belastung auf etwa 1000 ppm nicht zu wenig? Schließlich ist das genau die Grenze, ab der generell empfohlen wird, stoßzulüften? „Wir versuchen das System noch zu optimieren“, antwortet Bürgermeister Maas, der auch zwei Jahrzehnte lange Erfahrung als Diplom-Ingenieur für Bauwesen hat. Auf jeden Fall führe das Pirmasenser Modell dazu, das deutlich weniger als bisher stoßgelüftet werden müsse: „Dass es alle 20 Minuten geklingelt hat, um die Fenster aufzumachen, hat den Unterricht massiv gestört, das kann nicht gut sein für den Lernerfolg der Kinder.“ Der Ventilator-Motor transportiere 500 Kubikmeter Luft pro Stunde: „Da bin ich relativ entspannt, dass das System nicht völlig versagt.“ Und man schaffe mit dem Pirmasenser System „locker einen dreifachen Luftaustausch pro Stunde“.

Wie groß ist das Interesse an dem Pirmasenser Modell?

Bürgermeister Maas berichtet: „Kollegen aus ganz Deutschland rufen bei uns an, bestimmt schon aus 50 Kommunen. Wir hatten auch Besuch aus Zweibrücken.“ Übernommen hat das Pirmasenser Modell bereits die Verbandsgemeinde Pirmasens-Land mit der Grundschule Bottenbach. Maas sagt aber auch: „Ich habe kein Problem damit, wenn Kollegen sagen, Stoßlüften reicht.“ Denn das Pirmasenser Modell sei „eine organisatorische Mammutaufgabe“. Nicht jedes Bauamt habe dafür Kapazität, und sicher fänden sich auch nicht überall so viele ehrenamtliche Helfer (über THW, Feuerwehr bis Eltern, Lehrer sowie Schüler und sogar Firmen), die ihre Arbeitsleistung bei der Installation kostenlos zur Verfügung stellten.

Was empfiehlt das Umweltbundesamt (UBA)?

In Klassenräumen solle es pro Stunde einen dreifachen Luftwechsel geben (was Pirmasens nach eigenen Angaben erreicht) und bei Lüftungsanlagen eine Luftförderleistung von 1200 Kubikmeter pro Stunde (also deutlich mehr als in Pirmasens). Langfristig empfehlen das UBA und seine „Innenraumlufthygiene-Kommission“, Klassenräume mit professionellen raumluft-technischen Anlagen auszurüsten. Ansonsten sei Stoßlüften alle 20 Minuten das beste Mittel, um Viren aus der Raumluft abzutransportieren. Auf dem nächsten Platz der UBA-Prioritätsliste folgen – für Räume ohne geeignete Fensteröffnungsmöglichkeit – der „Einbau einfacher ventilatorgestützter Zu- und Abluftsystem“. Erst wenn das technisch nicht möglich ist „kann der Einsatz mobiler Luftreinigungsgeräte erwogen werden“. Bislang haben wissenschaftliche Studien zur Effektivität solcher Filtergeräte zum Coronaschutz in Klassenräumen teils völlig unterschiedliche Ergebnisse.

Was sagt das Gesundheitsamt?

Südwestpfalz-Gesundheitsamtsleiter Dr. Heinz-Ulrich Koch erklärte am Montag auf die Merkur-Frage, ob sich an seiner Skepsis gegenüber dem Pirmasesenser Modell etwas geändert habe: „Die Skepsis besteht fort, weil bisher noch keine Daten über die ,Effektivität’ vorliegen. Nach wie vor bewegen wir uns argumentativ nur auf einem einfachen ‚Plausibilitätsniveau’.“. Mit dem PFI habe er bei einem Ortstermin „die erforderlichen Messreihen besprochen“, um Stoßlüften und das Pirmasenser Modell zu vergleichen. Die bisherigen Messungen könnten noch keine Basis sein, um Zweibrücken eine Entscheidung über das Pirmasenser Modell zu empfehlen: „Nein, die erforderlichen Ergebnisse müssen hierzu erst vorliegen.“

Wie ist der Stand in Zweibrücken?

In der Stadtrats-Debatte Anfang März fand keiner von drei Fraktions-Vorschlägen zum Coronaschutz durch Geräte in Zweibrücker Schulen eine Mehrheit. Weil der Stadtrat zwar über das Wie zerstritten war, sich aber perspektivisch eine Mehrheit für Geräte abzeichnete, prüft die Stadtverwaltung derzeit weiter die Optionen. Aus Kostengründen und wegen schnellerer Verfügbarkeit angesichts der befürchteten „dritten Welle“ tendierte der Rat klar zu mobilen Luftfiltergeräten statt zum Einbau professioneller Lüftungsanlagen. Das Pirmasenser Modell schien zuletzt vom Tisch: Man wolle keine „Bastel-Lösung“, so der Tenor. Der Zweibrücker Stadtvorstand plädierte bislang dafür, der Umweltbundesamts-Empfehlung zum Stoßlüften zu folgen: Solange dies Stand der Wissenschaft sei, solle man diesem folgen – könne aber bei Veränderungen dieses Stands anders entscheiden.

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