„Ich erinnere mich noch ganz genau“

Zweibrücken · Gisela Krauß war am 1. September 1939 fünf Jahre alt, als die Zweibrücker evakuiert wurden. Wegen der Nähe zu Frankreich wurden sie nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ins „Reichsinnere“ gebracht.

 Gisela Krauß mit den Tagebuchnotizen ihres Großvaters Adolf Grünagel und der 1940 für sie in Thüringen ausgestellten „Rückführungskarte“. Foto: Klaus Friedrich

Gisela Krauß mit den Tagebuchnotizen ihres Großvaters Adolf Grünagel und der 1940 für sie in Thüringen ausgestellten „Rückführungskarte“. Foto: Klaus Friedrich

Foto: Klaus Friedrich

Vor genau 75 Jahren - am 1. September 1939 - begann der Zweite Weltkrieg. Für die Zweibrückerin Gisela Krauß war der anstehende Jahrestag ein Grund, nach langer Zeit nochmals das Notizbuch ihres Großvaters Adolf Grünagel zur Hand zu nehmen. Darin beschreibt dieser unter anderem die mit Kriegsausbruch einsetzende Evakuierung der Stadt Zweibrücken , die im Bereich des Westwalls in der so genannten "Roten Zone" lag. Als "Rote Zone" wurde dabei jenes zehn Kilometer breite Gebiet entlang der deutsch-französischen Grenze bezeichnet, dessen Bewohner bei möglichen Kampfhandlungen besonders gefährdet waren und daher, soweit man dies von offizieller Seite für notwendig erachtete, vorsorglich ins "Reichsinnere" in Sicherheit gebracht wurden.

"An die Evakuierung Zweibrückens erinnere ich mich noch ganz genau", erzählt Gisela Krauß, während sie in den Aufzeichnungen ihres 1876 geborenen Großvaters blättert: "Es kamen Autos der NSDAP und teilten über Lautsprecher mit, dass man sich abends mit kleinem Gepäck am Unteren Hornbachstaden einfinden soll", schildert sie den Tag des unfreiwilligen Aufbruchs, den sie als damals Fünfjährige miterlebte und im Rückblick "als ganz normal" empfand. Mit "kleinem Gepäck" hieß nach ihren Worten, dass man nur das Allernotwendigste mitnehmen durfte. Am Unteren Hornbachstaden standen zur angegebenen Zeit Wehrmachtsbusse bereit, die den zu evakuierenden Teil der Zweibrücker Bevölkerung aus der Stadt bringen sollten - "wohin", so Gisela Krauß, die gemeinsam mit ihren Großeltern aufbrach, "wussten wir allerdings nicht". Ihre Mutter, die zu dieser Zeit für die Wehrmacht arbeitete, blieb vor diesem Hintergrund zurück, ihr Vater hingegen befand sich krankheitsbedingt nicht vor Ort.

Anhand der Aufzeichnungen ihres Großvaters wird diese auch für viele andere ungewisse Reise wieder lebendig. So schreibt Adolf Grünagel: "Abfahrt Zweibrücken 7:30 abends. Fahrt mit dem Auto nach Dürkheim. Dann mit der Elektrischen nach Mannheim. Ankunft daselbst 23 Uhr nachts. Unterkunft Pullaschule (Nachtlager Stroh)." Am nächsten Morgen ging es über die Bergstraße, Frankfurt/Main und Weimar nach Blankenhain in Thüringen und von dort "mit Leiterwagen zum Standquartier Keßlar", wo die Reise zunächst endete.

Am 6. September um sechs Uhr morgens holte ein Bauer Gisela Krauß und ihre Großeltern ab und brachte sie zu seinem Hof "Wir wurden überall sehr freundlich empfangen und alles war gut organisiert", weiß die heute achtzigjährige Zeitzeugin im Rückblick zu berichten. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt auf besagtem Bauernhof wurden sie und ihre Großeltern nach Sachsenhausen bei Weimar umquartiert. "Dort", entsinnt sie sich, "durfte man abends nach sechs Uhr nicht mehr auf der Straße sein, weil Gefangenentransporte zum nahe gelegenen Konzentrationslager durch den Ort kamen und bewaffnete Wachtposten durch den Ort patrouillierten".

Nach fast einem Jahr in Thüringen gelangten auch die Grünagels wieder zurück in die Heimat. Auf einem Ausweis, den Gisela Krauß seit ihren Kindertagen aufbewahrt, steht der Vermerk "abgemeldet am 14. August 1940", woraufhin sie - wie es im damaligen Amtsdeutsch hieß - "rückgeführt" wurde. "Als wir in Zweibrücken ankamen, wurden wir mit Musik empfangen und der Bahnhof war festlich geschmückt", beschreibt sie die Heimkehr. Anschließend wurde sie nach ihrer ersten Einschulung in Thüringen nun erneut in ihrer Heimatstadt eingeschult. Ihr Aufenthalt in Sachsenhausen ist Gisela Krauß noch immer sehr präsent: So präsent, dass sie 1990, als sie nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze erstmals nach 50 Jahren die von ihrem Großvater geschilderten Orte in Thüringen aufsuchte, ihrem sie begleitenden Mann Karlheinz prompt alle noch vorhandenen Stätten ihrer Kindheit zeigen konnte.

Neben der ersten Evakuierung Zweibrückens - die zweite verschlug die Familie im Dezember 1944 in die Nähe von Stuttgart - beschrieb ihr Großvater in seinem Notizbuch zudem ein Luftgefecht über der Stadt und schließlich die große Explosion am Hauptbahnhof, dem auch die Wohnung der Familie Grünagel zum Opfer fiel. In ihrer Kindheit ausgebombt und zweimal evakuiert, teilt Gisela Krauß somit das Schicksal jener Zweibrückerinnen und Zweibrücker, für die der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren ein Stück ihrer ganz persönlichen Lebensgeschichte bedeutet.

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