Geflüchtet aus der Ukraine „Für uns war klar: Wir müssen hier weg!“
Südwestpfalz · Die geflüchtete Ukrainerin Olga Chernukha findet mit ihrer Tochter Violetta Zuflucht in Maßweiler.
Erschöpft, hungrig und verängstigt – das beschreibt den Zustand von Olga Chernukha und ihrer 15-jährigen Tochter Violetta, die nach einer viertägigen Flucht aus Kiew jetzt bei ihrer alten Schulfreundin Anna Paramonova in Maßweiler untergekommen sind. Zwei Rucksäcke und ihren Schäferhund Tera haben sie dabei – das ist alles, was ihnen von ihrem Leben in der Ukraine geblieben ist. Ihren Mann und ihren 22-jährigen Sohn musste Olga Chernukha zurücklassen. Sie müssen jetzt ihr Land gegen russische Angriffe verteidigen.
Unterwäsche, Zahnbürsten und Hundefutter – das haben sie aus ihrer Wohnung in der ukrainischen Hauptstadt mitgenommen, alles andere ist zurückgeblieben. Ob – und wenn ja, wie – sie dort jemals wieder leben werden, ist ungewiss. Nur eins ist sicher: Olga Chernukha, ihre Tochter und ihr vierbeiniges Familienmitglied sind jetzt erst mal in Sicherheit. Aber Sorge und Angst sind ihr ständiger Begleiter, auch in ihrem „neuen“ Alltag in Deutschland.
„Als sie ankamen, waren sie total müde und erschöpft“, erzählt Paramonova: „Sie haben zuerst etwas gegessen, geduscht und dann fast zwei Tage lang durchgeschlafen. Nur zwischendrin kamen sie kurz runter, haben erzählt und mit dem Familienvater Kontakt aufgenommen.“
Paramonova ist in Kiew geboren und mit 20 Jahren nach Pirmasens gezogen, wo sie in der Winzler Straße ein Buchhaltungsbüro leitet. Ihr Bruder lebt mit seiner Familie noch in der ukrainischen Hauptstadt. Zusammen mit seinem Stiefsohn muss er an der Front kämpfen. Seine Frau und seine behinderte Tochter verstecken sich in einem Dorf in der Nähe von Kiew, berichtet Paramonova – wo genau, weiß sie nicht.
Über die Nachrichtendienste Viber oder Telegramm hat sie fast täglich Kontakt zu ihrer Familie im Kriegsgebiet. „Es geht uns gut“ und „Ich hab dich lieb“ liest sie dann. „Das heißt: ,Ich lebe noch’“, deutet Paramonova die kurzen Meldungen. Mehr Informationen gibt es nicht – zu groß ist die Gefahr, dass sie abgehört und in ihrem Versteck entdeckt werden. Wie es ihren zahlreichen Freunden und Bekannten aus ihrer Jugendzeit in der Ukraine geht, weiß Paramonova ebenfalls nicht.
Auch ihre ehemalige Schulfreundin, der sie jetzt Unterkunft bietet, quälen Angst und Ungewissheit, erzählt Paramonova: „Sie ist besorgt. Sie weiß nicht, wie es weitergeht, und sie macht sich Gedanken, wie es ihrem Mann geht.“ Noch hat sie täglich kurz Kontakt zu ihm.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatten sie zunächst in ihrem Ferienhaus außerhalb von Kiew Schutz gesucht. „Wir hatten Angst, als wir in den Nachrichten erfahren haben, es ist Krieg. Aber wir hofften erst, das geht schnell wieder vorbei“, schildert Chernukha die ersten Gedanken. Doch zwei Tage später sah sie russische Truppen durch die Nachbardörfer laufen: „Ein Freund aus der Nähe hat uns angerufen und das bestätigt. Da war für uns klar: Wir müssen hier weg.“ Während sie zwei Rucksäcke mit dem Nötigsten packten, hörten sie bereits, wie Bomben in der Nähe einschlugen. „Wir haben Raketen über den Köpfen fliegen sehen, die explodierten, als sie von den Verteidigern abgeschossen wurden“, erzählt die Ukrainerin.
Mit dem Auto fuhr die Familie zur polnischen Grenze: „Wir versuchten, möglichst weit weg von den Schüssen zu fahren.“ Autobahnen mussten umfahren werden. Zu groß war die Gefahr, dass dort Raketen einschlagen: „In allen Ortschaften haben wir ukrainische Soldaten gesehen.“ Drei Tage hat es gedauert, bis die Flüchtenden am Montag die Grenze erreichten. Dann kam die Trennung. Ihr Mann Alexander und ihr Sohn Dimitri fuhren mit dem Auto zurück, Olga und Violetta passierten die Grenze zu Fuß und wurden von ehrenamtlichen Helfern aufgenommen.
„Alle Menschen dort waren erschöpft und müde, aber die haben immer nur 35 Leute gleichzeitig über die Grenze gelassen“, erklärt Chernukha, warum sie auch dort eineinhalb Stunden warten mussten, bis sie passieren durften. Nachdem sie registriert waren, bekamen sie Essen, auch der Hund wurde gefüttert. Zusammen mit anderen Flüchtlingen wurden sie in einem Kleintransporter in die nächstgelegene Großstadt in der Nähe von Warschau gebracht. Dort erhielten sie weitere Instruktionen und Zugtickets für die Reise zum Berliner Hauptbahnhof. Vier Stunden später bestiegen sie den Zug.
Hunderte Menschen tummelten sich am Bahnhof, als sie am Dienstagabend um 18 Uhr in Berlin ankamen – Flüchtlinge und Helfer. Lautsprecherdurchsagen auf Deutsch oder Englisch, die sie nicht verstanden, vermischten sich mit ukrainischen Anweisungen der Helfer, die zum Teil übersetzen konnten. Von diesem Knotenpunkt aus wurden die flüchtenden Menschen in alle möglichen Regionen Deutschlands verteilt.
Zwei Stunden lang standen die beiden Frauen mit ihrem Hund im Chaos, bis Olga Chernukha an der Reiseauskunft die ukrainischen Pässe von sich und ihrer Tochter vorgezeigt hatte und Zugtickets nach Frankfurt erhielt. Mitten in der Nacht, um 2.11 Uhr – daran erinnert sich Paramonova noch ganz genau – schloss sie ihre Freundin am Bahnhof in Frankfurt in die Arme.
In Maßweiler angekommen, waren die beiden Ukrainerinnen sichtlich erschöpft. „Erstmal wollte ich, dass sie zu sich kommen“, erzählt Paramonova, die sich gleichzeitig um behördliche Angelegenheiten kümmerte. „Ich habe mit der Ausländerbehörde telefoniert. Die beiden bekommen keinen Flüchtlingsstatus, sondern einen Aufenthaltstitel. Das heißt, sie dürfen hier arbeiten gehen und sich im Notfall und für medizinische Versorgung beim Sozialamt melden“, erklärt Paramonova. Doch das sei erst auf EU-Ebene beschlossen, bis das auf Bundes- und Landesebene entschieden wird, wird es wohl bis Ende der Woche dauern, sagt sie.
Mittlerweile hat sich ihre Hilfsaktion im Ort und auch im weiteren Bekanntenkreis in der Region herumgesprochen. Viele haben Kleider, Bettwäsche und Handtücher für Olga und Violetta gesammelt und vorbeigebracht – und natürlich auch Hundefutter für Tera.
„Die Hilfsbereitschaft ist groß. Mit Kleidern sind die beiden im Moment voll ausgestattet“, sagt Paramonova erleichtert. Denn sie wird weitere Spenden brauchen. Gestern Abend hat sie noch eine Freundin, die mit ihrer acht- und 22-jährigen Tochter aus Kiew geflüchtet ist, in Frankfurt abgeholt. Auch sie haben einen Hund dabei. „Keiner lässt seinen Hund zurück“, weiß Paramonova. Allerdings kann sie für ihre Freundinnen nur eine erste Anlaufstelle sein und muss sie dann woanders unterbringen. Denn: „Auf Dauer kann ich nicht so viele aufnehmen, weil das Haus zu klein ist.“
Putins Propaganda, die Ukraine müsse entnazifiziert werden, ist in den Augen der 42-Jährigen Maßweilerin, die in ihrer Kindheit oft bei ihrer Oma in Donbass verbracht hat, eine riesige Lüge: „Da hat nie jemand gesagt ,Ich bin Russe’ oder ,Ich bin Ukrainer’. Wir waren alle ein Volk. Und wir waren glücklich.“ So denken alle Ukrainer, ist sie überzeugt.