Kann das Bundesland Zielscheibe werden? Wie der Ukraine-Krieg Rheinland-Pfalz verändert

Mainz · Die Hoffnungen auf ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges haben sich nicht bewahrheitet. Auch Rheinland-Pfalz spürt die Folgen.

 Auch das Zweibrücker Rathaus ist seit kurz nach Beginn des Überfalls verändert: Zwei Fenster zeigen die ukrainischen Nationalfarben.

Auch das Zweibrücker Rathaus ist seit kurz nach Beginn des Überfalls verändert: Zwei Fenster zeigen die ukrainischen Nationalfarben.

Foto: Lutz Fröhlich

Die Menschen in Rheinland-Pfalz sind am 24. Februar 2022 in einer veränderten Welt aufgewacht. An jenem Donnerstag begann Russland seinen Angriffskrieg auf weite Teile der Ukraine – an diesem Freitag (3. Juni) läuft der Konflikt 100 Tage lang. Die Veränderungen sind wohl nicht täglich und nicht überall sichtbar, dennoch: Das Bundesland spürt die Folgen, ob bei der Aufnahme von Geflüchteten, der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Idar-Oberstein oder dem Flugbetrieb in Ramstein. Kann Rheinland-Pfalz zur Zielscheibe werden?

„Militärisch sehe ich keine akute Bedrohung“, sagt der Politologe David Sirakov von der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz. An einem Konflikt mit der Nato habe Ruslands Präsident Wladimir Putin kein Interesse. „Wirtschaftlich sieht das etwas anders aus“, meint der Experte. Aber auch hier gelte, dass Rheinland-Pfalz „kein besonderes Ziel“ sei. „Hier geht es um die volkswirtschaftlichen Folgen der internationalen Sanktionspolitik gegenüber Russland und andererseits der energiepolitischen Reaktionen Moskaus.“

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer hatte nach Kriegsbeginn von einem „schwarzen Tag für Europa“ gesprochen. „Die russische Invasion stellt einen Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten dar“, sagte die SPD-Politikerin. „Es ist grässlich, es ist verstörend, und es ist auch unverzeihlich.“ Geflüchtete aus der Ukraine dürften mit der Unterstützung des Bundeslandes rechnen.

Seit Kriegsbeginn sind mehr als 38 000 Menschen aus der Ukraine nach Rheinland-Pfalz gekommen. Die meisten kamen unter bei Freunden oder Verwandten, so auch in Zweibrücken. Nur ein kleinerer Teil gelangte zunächst in eine der Erstaufnahme-Einrichtungen. Die Behörden wollen familiäre Bindungen berücksichten und streben eine möglichst gleichmäßige Verteilung an. „Ich finde es gut, wie ruhig, unaufgeregt und kooperativ sich das Aufnahmegeschehen in den letzten Wochen dargestellt hat“, sagte Integrationsministerin Katharina Binz (Grüne) Mitte Mai.

Da es sich mehrheitlich um Frauen mit Kindern handelt, erwartet das Bildungsministerium, dass etwa die Hälfte der Menschen im Kita- oder Schulalter sein könnte. „Wir heißen sie in unseren Kitas und Schulen willkommen“, sagte Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Es gehe darum, „dass die Schülerinnen und Schüler hier gut ankommen können, Deutsch lernen und sich mit ihren neuen Freundinnen und Freunden verständigen können. Es geht aber gleichzeitig auch darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, Schritt zu halten und ein Stück Heimat zu bewahren.“ Seit Kriegsbeginn habe das Bundesland in seinen Schulen mehr als 100 Lehrkräfte aus der Ukraine eingestellt, sagte Hubig. „Die Sprachförderung wird sich nach dem richten, was gebraucht wird und bei Bedarf natürlich auch ausgebaut“, sagte eine Sprecherin des Bildungsministeriums. Das rheinland-pfälzische Sprachförderkonzept habe sich seit 2015/16 gut bewährt – damals wurden Zehntausende von Geflüchteten aufgenommen, vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan.

Die Nachfrage nach Deutschkursen bei Ukrainern sei nach wie vor „sehr, sehr hoch“, sagte die Fachreferentin für Sprachen und Integration im Landesverband der Volkshochschulen (VHS) in Rheinland-Pfalz, Sina Djemai. Inzwischen gebe es im Netz der 63 Volkshochschulen im Land flächendeckend Angebote. Es gebe kürzere Kurse über drei bis vier Monate, die „als Einstieg“ gedacht seien. Danach könne man sich gut über Alltagsthemen verständigen. Zudem gebe es Integrationskurse, die mindestens über ein Dreivierteljahr liefen.

Auch im Ahrtal sind ukrainische Vertriebene angekommen. Sie erhalten Hilfe – manche helfen auch ihrerseits Ahr-Hochwasseropfern mit noch verwüsteten Häusern. Beispielsweise Valentyna Ridvanskaya, die nach eigenen Worten einmal wöchentlich in Bad Neuenahr-Ahrweiler im Verein „Die Ahrche“ hilft und flutgeschädigten Anwohnern Essen austeilt. Die 41 Jahre alte Lehrerin aus Browary bei Kiew ist mit Mann (39), zwei Töchtern (3 und 9) und Schwiegermutter (57) ins Ahrtal geflohen. „Meine Schwiegermutter ist wieder in die Ukraine zurückgekehrt“, sagt Ridvanskaya. Das Heimweh sei zu groß geworden. „Ich will auch zurück“, betont sie. „Aber mit unseren zwei Kindern ist es zu gefährlich.“ Ihre ältere Tochter Polina gehe im Ahrtal zur Schule, für Schwester Uliana warte sie auf einen Kitaplatz. Zugleich sorgt sich Ridvanskaya: „Ich habe Angst um meine Familie und Freunde in der Ukraine. Die Situation dort ist sehr, sehr, sehr schlecht.“

Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass etwa 60 Prozent der eingereisten ukrainischen Geflüchteten als potenzielle erwerbsfähige Leistungsberechtigte in Frage kommen könnten. Die Datenbasis zeige dies, teilte die Regionaldirektion Rheinland-Pfalz-Saarland mit.

Arbeitsminister Alexander Schweitzer (SPD) erklärte, dass man angesichts des stabilen Arbeitsmarktes zuversichtlich sei, „dass geflüchtete Menschen die Chance auf eine gute und faire Beschäftigung erhalten werden, die ihren Qualifikationen entspricht“.

Der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert hatte Anfang Mai nach einer Reise in die Ukraine mehr konkrete Hilfe für die Zivilbevölkerung gefordert. Gleichzeitig plädierte er, die Debatte über Waffenlieferungen zu versachlichen. Trabert, der im Februar als Kandidat der Linken bei der Bundespräsidentenwahl angetreten war, war mit Gregor Gysi und einem weiteren Politiker der Linken gereist.

Wie lange der Krieg noch dauert, da wagt Experte Sirakov keine Prognose. „Der weitere Fortgang hängt von vielen Unwägbarkeiten ab.“ Er fürchtet, dass es zu keiner klaren Entscheidung kommt. „Sondern dass wir irgendwann wieder in den Zustand eines eingefrorenen Konflikts zurückkehren, in dem die Kämpfe zwar weitestgehend eingestellt sind, allerdings jederzeit wieder aufflammen können.“

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