Plädoyer für eine neue Sterbe-Kultur

Die Einführung hoch effektiver technischer Neuerungen in die Medizin, wie zum Beispiel die "eiserne Lunge", der Defibrilator oder die künstliche Ernährung über die Sonde seit Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts versetzt den Arzt in die Lage, in schwerste Krankheit, ja in den Sterbeprozess wirksam einzugreifen

Die Einführung hoch effektiver technischer Neuerungen in die Medizin, wie zum Beispiel die "eiserne Lunge", der Defibrilator oder die künstliche Ernährung über die Sonde seit Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts versetzt den Arzt in die Lage, in schwerste Krankheit, ja in den Sterbeprozess wirksam einzugreifen. Immer öfter ist der Alltag medizinischer Praxis bestimmt durch Therapien, "die auch nur die geringste Aussicht bieten, das Leben um eine noch so kurze Frist zu verlängern." Das Machbare und das Patientenwohl, an dem Ersteres sich immer messen muss, driften allzu oft auseinander, weil weiterhin und immer wieder eine janusköpfige und vermeintlich unabänderliche Maxime ärztlichen Handelns am Lebensende dominiert: "Wir tun alles was wir können!" Das konstatiert Michael de Ridder in seinem Buch "Wie wollen wir sterben?"

De Ridder ist seit 30 Jahren als Internist klinisch tätig und seit 2003 Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses. In seinem "Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin" - so der Untertitel - übt er scharfe, aber fundierte Kritik am ärztlichen Handeln am Lebensende. Ein Hinausschieben des Todes um jeden Preis komme fahrlässigem Handeln gleich, zu oft werde dabei ein menschenwürdiges Sterben verhindert. Medizinisches Handeln müsse sich vielmehr am Recht auf Selbstbestimmung gerade bei unheilbar kranken und alten Menschen orientieren. Der Arzt verstehe sich immer noch zu sehr als ausschließlich Heilender denn als fürsorgender, empathischer Begleiter. Mediziner müssten lernen, dass der ärztliche Auftrag nicht endet, wenn die kurative Medizin ausgeschöpft, der Patient "therapeutisch ausgereizt" ist. Seine Fortsetzung finde der ärztliche Auftrag in der Palliativmedizin. Sie hält de Ridder für den größten medizinischen Fortschritt. Vehement fordert er den Ausbau der Hospize. Erst, wenn der Arzt im Tod nicht mehr den Feind, sondern in ihm den Erlöser eines qualvoll Sterbenden sieht, kann er bereit sein, dem Patienten in der letzten Phase seines Lebens sinnvolle Hilfe zu leisten.

Das Buch reflektiert klinische Fallgeschichten und Patientenschicksale. Gewiss keine leichte Lektüre, die sich dem Leser bietet, wird er doch mit seinem eigenen unausweichlichen Sterben konfrontiert. Das Buch hat einen klaren Stil und verzichtet weitgehend auf medizinischen Fachjargon. Neben der "Kälte des Krankenhausbetriebes" beleuchtet der Autor auch das "Fiasko der Schmerztherapie", zudem entlarvt er die "Legende vom Verhungern und Verdursten". Ausführlich erörtert der Band das vom Bundestag im Juli 2009 verabschiedete "Patientenverfügungsgesetz". Allein die Tatsache, dass 30 Prozent aller Ärzte glauben, die "indirekte Sterbehilfe" sei rechtswidrig, war für de Ridder als Argument ausreichend, die bestehende rechtliche Situation neu zu regeln. Er diskutiert das Für und Wider der Sterbehilfe und kommt zu dem Schluss, Ärzte, dürften sich der Verantwortung für Patienten, "die begründet und in schwerster Not um ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung oder um direkte aktive Sterbehilfe bitten, nicht entziehen". Beide Arten der Sterbehilfe, so de Ridder, sind ethisch vertretbar, in begründeten Fällen sogar ethisch geboten.

Fazit: Ein wichtiges und längst überfälliges Buch. Bleibt zu wünschen, dass die so leidenschaftlich wie differenziert geschriebene Streitschrift eine breite Rezeption in der Öffentlichkeit erfährt, nicht nur bei Patienten und Angehörigen, sondern auch und gerade innerhalb der Ärzteschaft.

Michael de Ridder. Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin, DVA, 317 Seiten, 19,95 €

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