Pippi und der Krieg, Astrid und das Schreiben

Saarbrücken · Ihre Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über 150 Millionen Exemplaren. Bis heute ist sie weltweit die berühmteste Kinderbuchautorin. Eine umfängliche Biographie zeichnet Astrid Lindgrens Leben nach.

1978 wurde ihr der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. "Als die Veranstalter einige Wochen zuvor ihre Dankesrede gelesen hatten, schickten sie sie ihr mit Hinweis zurück, sie solle den Preis entgegennehmen und sich kurz und gut bedanken. Astrid Lindgren antwortete umgehend, wenn sie ihre Rede nicht in voller Länge halten dürfe, werde sie krank sein." Sie beugte sich der Vorzensur nicht, hielt ihre Rede wie vorgesehen - ihre Botschaft lautete: niemals Gewalt!

Wer diese Seite der Erfinderin von Pippi Langstrumpf nicht kennt, wird sie und vieles andere in Jens Andersens hervorragender Biographie nachlesen. Er hat vor allem das Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek Stockholm, aber auch andere Quellen gesichtet und Gespräche mit Weggefährten Lindgrens gefüht. Entstanden ist ein Porträt, das durch die vielen Zitate und O-Töne einem Selbstporträt gleicht, das ein hohes Maß an Authentizität erreicht.

Als Jugendliche war die in einer frommen protestantischen Bauernfamilie aufgewachsene Astrid Ericsson , wie sie vor ihrer Eheschließung hieß, aufmüpfig, kleidete sich im Stil einer garçonne und bemühte sich, nach ihrem Realschulabschluss mittels eines Zeitungsvolontariats schnell um Autonomie. Ein Weg, der sie in ungewollte Abhängigkeit warf: Ihr Arbeitgeber, der verheiratete Verleger, verliebte sich in sie; sie wurde schwanger. Die Verhältnisse in der Kleinstadt Näs ließ beide ihre Liaison verheimlichen. Astrid zog nach Stockholm und begab sich zur Entbindung nach Kopenhagen in eine Klinik, in der nicht nach dem Kindesvater gefragt wurde. Drei Jahre lang ließ sie Sohn Lasse in Kopenhagen von einer Ziehmutter betreuen.

Der Hauptteil der Biographie erzählt von der Entstehung der Bücher, die mit Pippi Langstrumpf 1945 anhob. Der kleine schwedische Verlag Rabén & Sjögren, der vor dem Ruin stand, wurde durch den Riesenerfolg des ersten Bandes gerettet. Zum Erfolg trug vor allem die Bibliothekarin Elsa Olenius bei, die zur eigentlichen Literaturagentin Lindgrens wurde. Die hatte inzwischen geheiratet, Lasse nach Stockholm geholt und mit ihrem Mann eine Tochter bekommen. Nicht ohne kritischen Unterton beschreibt Andersen die Verstrickungen zwischen Lindgren, die eine Stelle im Verlag annahm und ihrer Agentin Olenius, die für günstige Rezensionen und Radiosendungen sorgte und in ihrem Kindertheater Dramatisierungen der Werke aufführte.

Ihr Biograph fädelt die lange Reihe der literarischen Erfolgsgeschichte minutiös auf mit den in aller Welt bekannten Figuren wie "Karlsson vom Dach" oder "Ronja Räubertochter". Stets verbindet er Entstehungsgeschichte, Inhalt und Rezeption mit Zitaten aus Werken Lindgrens oder Rezensionen über sie. Passagen, die sich lesen, als ob Lindgren die Kinderbücher am laufenden Band aus dem Stenogrammblock geflossen wären, auf dem die effektiv arbeitende Autorin die Erstfassung ihrer Werke, oft im Liegen, niederschrieb.

Doch ihr Leben enthielt auch andere Facetten: Im Krieg war sie in der Postzensurstelle des schwedischen Geheimdienstes tätig. In ihren kürzlich erschienenen Kriegstagebüchern richtet sie auf erhellende Weise den Blick aus dem neutralen Schweden auf Nazi-Deutschland. Deutlich wird, dass ihre Pippi ein Kind des Weltkrieges war, durch ihn motiviert wurde. "Ohne Widerrede muss man die Kommentare eines jeden Erwachsenen über Aussehen, Gesundheit, Kleidung und Zukunftsaussichten über sich ergehen lassen", schrieb sie. Später mischte sie sich politisch in die Friedensbewegung ein, war Umweltaktivistin, brachte (selbst Sozialdemokratin) eine sozialdemokratische Regierung wegen deren Steuerpolitik um den Wahlsieg. Ihr Tod am 28.1.2002 löste weltweit Trauerbekundungen aus. "Die Trauerfeier fand am 8. März statt, dem Weltfrauentag, und war einer Königin oder eines Staatsmanns würdig", notiert Andersen.

Jens Andersen: Astrid Lindgren - ihr Leben. Aus dem Dän. von Ulrich Sonnenberg. DVA, 448 S., zahlr. Abb. 26,99 €

Astrid Lindgren : "Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945." Ullstein, 575 S., 24 €

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