Sparte4-Premiere von „Philipp Lahm“ Unter Brandstiftern braucht es Biedermänner

Saarbrücken · Thorsten Köhlers Inszenierung von Michel Decars Stück „Philipp Lahm“ in der Saarbrücker Sparte 4.

 Thorsten Loeb spielt in „Philipp Lahm“ einen Regisseur, der ein Stück über den als Langweiler geltenden WM-Helden von 2014 schreibt.

Thorsten Loeb spielt in „Philipp Lahm“ einen Regisseur, der ein Stück über den als Langweiler geltenden WM-Helden von 2014 schreibt.

Foto: Astrid Karger

Abends noch ein bisschen Fernsehen, am liebsten 3sat und Arte, und dann früh zu Bett. Dann ist man morgens ein bisschen gebildeter und gut ausgeschlafen. Ist das nun spießig? Mittelschichtige Bildungsbürgerlichkeit? Oder, folgten ihm viele, ein sinnvolles Konzept, das aus der Welt einen besseren Ort machen könnte? Das ist so eine der Fragen in Michel Decars Schauspiel „Philipp Lahm“, das am Freitag seine Saarbrücker Premiere in der Sparte 4 gefeiert hat. Um Lahm, den Fußballweltmeister von 2014, geht es als Person eigentlich nicht, Lahm wird zu einem Symbol, zu einem Zentrum des Grübelns über Leben, Glück und auch Deutschland.

Der reale Lahm ist kein Mann der Skandale oder lauten Auftritte, was ihn im hysterischen Medienbetrieb wie eine graue Maus wirken lässt. Daraus zimmert sich das Stück ein Konstrukt, das mit der realen Person nur bedingt zu tun hat: Lahm als grundzufriedener Biedermann, langweilig, aber glücklich, alles ist bei ihm „Oki Doki“, die Welt ist schön. Alles perlt an ihm ab, vor allem Versuche, ihn zu ergründen.

Diese Aufgabe aber hat die Solofigur dieses Stücks, ein Regisseur (gespielt von Thorsten Loeb). Den hat das indonesische Kulturministerium (!) beauftragt, ein Drehbuch über Lahm zu schreiben. Doch der Autor quält sich, die Muse küsst nicht, es reicht bloß für große Gesten an der Tastatur, pathetisch intonierte „Kamerafaaaaahrt!“-Ausrufe und imaginierte Szenen, in denen Lahm ganz normale Dinge tut: im Kaufhaus essen und dort eine Mehrfachsteckdose kaufen, „weil man schon mal da ist“. Oder seine Beatles-Sammlung nach Lieblings-Alben ordnen (sein Favorit ist „Rubber Soul“).

Decar verknüpft mit großer Komik das schlicht Banale des Alltags mit Lahm, den er zuvor quasi als Langeweiler kosmischen Ausmaßes eingeführt hat: Das Stück beginnt mit einem Zitat aus „Superman“, mit einem Satz dessen Vaters, der den einzigen Sohn quer durchs All zu den Menschen schickt, auf dass er sie zu besseren Erdenbürgern mache. Jesus-Bezüge hat das durchaus, und so ergibt sich fast die Gleichung Superman = Jesus = Philipp Lahm. Und diese Dreifaltigkeit kauft sich dann eine Mehrfachsteckdose und kann bei Reporterfragen, was sein Geheimnis sei, nur mit den Achseln zucken.

Der Autor im Stück scheitert erstmal, Schweiß und Tränen tropfen in die Schreibmaschine, aber irgendwann scheint er den Lahm-Code geknackt zu haben und wirkt wie ein neuer, glücklicherer Mensch: „Der Trick ist, sich zu distanzieren“, verkündet er und singt zur Gitarre wie überdosiert mit Stimmungsaufhellern vom Glück im Leben, das so gewaltig ist, dass man es erstmal ertragen muss. Hier geht das Stück, bevor sich die Lahm-Banalitäts-Späße totzulaufen drohen, tiefer und lässt grübeln. Ist der Lahm des Stücks, so bieder er sein mag, nicht jener Bürgertypus, den man sich gerade heute wünscht – korrekt, integer und sogar ein Fan der EU? „Die Machtstrukturen sind der Knaller“, heißt es da. Biedermänner sind wichtig, wenn die Brandstifter drohen.

Nur: Ist diese beruhigende Lahmheit doch nur eine selbsterzwungene Verdrängung von Problemen? Das Biedermeiertum als Flucht ins Private und Unpolitische, getarnt als bodenständige Bescheidenheit? Der Autor schaut sich, wie die Figur Lahm, bei Arte eine Dokumentation über Geparden an, die Wildkatze springt in Zeitlupe schier endlos quer über den Flachbildschirm. Doch als blutige Bilder eines gerissenen Tieres zu sehen sind, schaltet er flugs um – man muss sich eben zwingen, um alles jederzeit schön zu finden, „Oki Doki“ ist weniger eine Gefühlslage denn ein Willensakt.

Die Aggregatszustände zwischen Zufriedenheit und Verzweiflung, Verdrängung und Aufgeklärtheit spielt Thorsten Loeb mit Wonne: Den Autor gibt er erst als Popanz im Morgenmantel, der  seine mageren Erkenntnisse übertheatralisch deklamiert und im Gespräch mit seinem Auftraggeber schmerzhaftes Englisch sprudeln lässt: „lisssen to sisssss!“. Den sozusagen von Lahm Geläuterten spielt er mit einem Dauergrinsen, dessen Glücksstarre um seine Kiefermuskel fürchten lässt.

„In welcher Welt wollen wir leben?“ fragt der Autor im Stück. Ohne die aktuelle Lage direkt anzusprechen, verbindet Regisseur Thorsten Köhler Bilder von der Weltmeisterschaft 2014, wo das große „Wir-Gefühl“ endlos beschworen wurde, mit neu gedrehten Szenen von Darstellern als Mitjubelnde: in Zeitlupe, mit gefletschten Zähnen, bedrohlich. Da köchelt und brodelt etwas, gegen das die Lahm’sche Biedermeierei machtlos zu sein scheint. Am Ende entlässt uns immerhin eine projizierte Sternschnuppe in den Abend – man kann sich etwas wünschen. Dass wir alle wie Philipp Lahm sind? Warum nicht?

Termine: 12., 15., 21., 27. September. 6., 12. und 26. Oktober.

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