70 Jahre Kinsey-Report Wie „Dr. Sex“ einst Amerika erregte

Washington · Vor 70 Jahren sorgte ein Bericht in Amerika für Aufsehen: Der Sexualforscher Alfred Kinsey legte erstmals dar, was im Bett passiert.

 Die Berichte von Alfred Kinsey schilderten erstmals die sexuellen Vorlieben der Amerikaner.

Die Berichte von Alfred Kinsey schilderten erstmals die sexuellen Vorlieben der Amerikaner.

Foto: dpa/Christophe Gateau

Wie, wann und mit wem haben die Amerikaner Sex? Vor genau 70 Jahren liefert der Biologe Alfred Kinsey mit seinem Bericht „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ darauf erste empirische Antworten. Ein Meilenstein für die einen, ein Skandal für die anderen. So oder so schlägt der Report, den Kinsey am 31. Januar 1948 vorstellte, im damals konservativ-puritanischen Amerika ein wie eine Granate. Und spätestens mit dem zweiten Bericht zum Liebesleben der Frau avanciert der zuvor unbekannte Wespen-Forscher Kinsey 1953 zum Tabubrecher und Aufklärer. Als „Dr. Sex“, wie ihn T.C. Boyle später in einem Roman nennt, ebnet er den Weg zur sexuellen Revolution der 60er Jahre.

Eigentlich will Kinsey, der zuvor ein Standardwerk über Gallwespen veröffentlicht hat, im Biologie-Institut der Universität von Indiana lediglich „Ehevorbereitungs-Kurse“ für Studenten entwickeln. Als er aber feststellt, dass es kaum Zahlen zum Sexleben der Amerikaner gibt, ist sein Forscherinteresse geweckt. Über zehn Jahre hinweg interviewt er am neugegründeten Institut für Sexualforschung zusammen mit seinem Team freiwillige Probanden. Rund 5300 Männer geben anonymisierte Antworten auf 300 bis 500 Fragen.

Das Ergebnis lässt die US-Gesellschaft mit ihrer strikten Sexualmoral erbeben. Offiziell hat Geschlechtsverkehr damals nur in der Ehe Platz, Homosexualität, Sex zwischen Schwarzen und Weißen oder Oral-Sex sind in vielen Bundesstaaten verboten. Doch die Hälfte der von Kinsey Befragten gibt an, bis zu einem gewissen Grad bisexuell zu sein. Fast jeder masturbiert, gut ein Drittel geht fremd und bald jeder Vierte steht auf sadomasochistische Schilderungen. Der Report verkauft sich schon in den ersten zwei Monaten über 200 000 Mal.

Was an Kinseys Ansatz neu ist: Der Forscher geht empirisch und vorurteilsfrei heran, vermeidet eine feste Klassifizierung. Stattdessen entwickelt er die sechsteilige Kinsey-Skala, auf der die Übergänge zwischen hetero- und homogeschlechtlichen Tendenzen fließend sind. Kinseys Überzeugung ist: „Es gibt nur drei sexuelle Abnormitäten: Abstinenz, Zölibat und die verzögerte Heirat.“ Auch wenn Menschen angeben, Sex mit Tieren oder Kindern zu haben, urteilt Kinsey nicht.

Kritiker bemängeln, das Bild sei verzerrt: Die Auswahl der Probanden sei nicht ausgewogen, der Anteil von Strafgefangenen beispielsweise viel zu hoch. Auch Konservative und kirchliche Kreise üben Kritik – teils bis heute. Manche werfen Kinsey vor, er lebe eigene unterdrückte Wünsche mit seiner Arbeit aus. Eine spätere Biografie beschreibt ambivalente Seiten Kinseys, der aus einer rigiden, strenggläubigen Familie stammt und dessen eigenes Verhältnis zu Sex und seiner Bisexualität nicht unkompliziert ist.

Der Sexualmediziner Klaus Beier von der Charité in Berlin teilt die Kritik daran, dass Pädophile Informationen über ihre Kontakte zu Kindern lieferten. „Diese Kritik ist mehr als berechtigt und macht deutlich, wie wichtig in der Forschung ethische Fragestellungen sind“, betont er. Die Erwachsenen hätten in der weiteren Zusammenarbeit mit Kinsey Kinder unter dem Vorwand wissenschaftlicher Forschung missbraucht.

 Der amerikanische Biologe Alfred Kinsey im August 1953.

Der amerikanische Biologe Alfred Kinsey im August 1953.

Foto: dpa/DB

Trotzdem sei die Arbeit Alfred Kinseys mit ihrer empirischen, wertefreien Herangehensweise bis heute maßgeblich. „Der erste Kinsey-Report ist ein Meilenstein für die Sexualwissenschaft“, sagt Beier. Auch ein anderer Sexualaufklärer, Oswalt Kolle, betonte 1998: „Der Kinsey-Report ist ein absolutes Jahrhundertwerk, ohne das unser Jahrhundert anders ausgesehen hätte“. Einer seiner Schwächen liegt für Beier aber in der reinen Fokussierung auf das sexuelle Verhalten. „Weil es nur einen Teil der menschlichen Sexualität abbildet.“

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