Folgen der Weinstein-Affäre Sexuelle Belästigung ist keine Galanterie

Paris · Die Weinstein-Affäre hat Frauen ermutigt, offen über Belästigungen zu sprechen. Laut einer Umfrage in Frankreich war etwa die Hälfte der Französinnen bereits Opfer von Übergriffen.

(dpa) Ein Abend im Frühjahr 2010: An der Pariser Oper an der Bastille steht Richard Wagner auf dem Programm. Auf einem der VIP-Plätze sitzt die 20 Jahre alte Ariane Fornia, Tochter des damaligen Einwanderungsministers Eric Besson. Neben ihr ein älterer Unbekannter. „Nach zehn Minuten hat der alte Mann seine Hand auf meinem Schenkel“, erinnert sich die Schriftstellerin in ihrem Blog Itinera Magica. „Ich sage mir, dass er sehr alt und durcheinander ist und wehre ihn höflich ab. Er fängt wieder an. Er zieht meinen Rock nach oben und gleitet mit der Hand zwischen meine Beine.“ Ariana Fornia erfährt in der Pause, wer der Mann ist, der sie in Begleitung seiner Frau belästigte: der frühere französische Minister Pierre Joxe.

Der angesehene Sozialist, der unter François Mitterrand Innenminister war, weist die Vorwürfe zurück. Doch die Affäre um Harvey Weinstein zeigt, dass sich auch in Frankreich, dem Land der Charmeure, die Wahrnehmung geändert hat: Was jahrelang als Galanterie abgetan wurde, wird heute als das gesehen, was es wirklich ist: Chauvinismus und sexuelle Belästigung.

Seitdem die Weinstein-Welle rollt, kommen viele unangenehmen Situationen und Tabus ans Licht. Einige Hollywood-Größen reagieren ebenfalls auf die Anschuldigungen gegenüber Weinstein. Regisseur Quentin Tarantino distanzierte sich gestern öffentlich von dem Produzenten, mit dem er mehr als 20 Jahre zusammengearbeitet hat. Dabei gibt er eigenes Fehlverhalten zu. „Ich wusste genug, um mehr zu tun, als ich getan habe.“ Viel früher hätte er „Verantwortung“ übernehmen und seine Zusammenarbeit mit Weinstein beenden müssen. 1995 habe ihm seine damalige Freundin, die Schauspielerin Mira Sorvino, von früheren Belästigungen erzählt. Er sei damals „schockiert und aufgebracht“ gewesen und habe danach von weiteren Fällen gehört, aber nie das ganze Ausmaß der Vorfälle erkannt. Er habe die Anschuldigungen verdrängt und abgetan.

Sexuelle Übergriffe sind anscheinend ein allgemein bekanntes aber geduldetes Problem. Das Tabu gebrochen hatte beispielsweise vor gut sechs Jahren der Fall Dominique Strauss-Kahn. Dass der frühere IWF-Chef Frauen nachstellte, war schon vor den Vorfällen im New Yorker Luxushotel Sofitel bekannt. Doch Geschichten wie die der Journalistin Tristane Banon, über die Strauss-Kahn hergefallen sein soll wie ein „brünftiger Schimpanse“, interessierten die Öffentlichkeit kaum. Häufig profitierten die Täter von einer Omertà – einem Gesetz des Schweigens nach Art der italienischen Mafia. Erst nach und nach wagten sich die Opfer aus der Deckung. So, wie im vergangenen Jahr die frühere Sprecherin der Grünen, Sandrine Rousseau. Sie war 2011 vom stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalversammlung, Denis Baupin, belästigt worden.

„Er hat mich gegen die Wand gedrückt indem er meine Brüste hielt und versuchte, mich zu küssen“, schilderte sie den Annäherungsversuch. Rousseau war nicht das einzige Opfer von Baupin: Zusammen mit ihr meldeten sich noch andere Frauen, die ein Verfahren gegen den Grünen-Politiker anstrengten und ihn zum Rücktritt zwangen. „Ein unbestreitbarer Fortschritt sechs Jahre nach der Strauss-Kahn-Affäre, bei der einige das Verhalten des Ex-IWF-Chefs noch als ‚Verführung auf französische Art’ verteidigten“, kommentierte die Zeitung „Le Monde“.

Diese Zeiten sind endgültig vorbei, wie der Hashtag „Balancetonporc“ (etwa: „Schwärze dein Schwein an“) zeigt. Im Kurznachrichtendienst hatte die Journalistin Sandra Muller unter diesem Stichwort dazu aufgerufen, sexuelle Übergriffe bekannt zu machen. Innerhalb von nur sechs Tagen griffen mehr als 335 000 Nachrichten in den sozialen Netzwerken das Stichwort auf. „Schweine auf dem Grill“ titelte die Zeitung „Libération“ diese Woche.

Laut einer gestern veröffentlichten Umfrage waren 53 Prozent der Französinnen mindestens einmal Opfer sexueller Belästigung. Verurteilt werden pro Jahr allerdings nur rund 600 Fälle. Verfahren wie die von Sandrine Rousseau oder Tristane Baron wurden wegen Verjährung eingestellt. „Die Frage der sexuellen Belästigung ist für 91 Prozent ein wichtiges Problem in Frankreich“, sagte der Leiter des Instituts Odoxa, Gaël Sliman. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen den Generationen: Was die Älteren akzeptierten, wird von den jungen Frauen nicht mehr toleriert.“

Galionsfigur der Frauen, die null Toleranz zeigen, ist die Staatssekretärin für Gleichstellung, Marlène Schiappa. Die 34-Jährige kündigte für nächstes Jahr ein verschärftes Sexualstrafrecht an, und wird darin von 80 Prozent der Franzosen unterstützt. Das neue Gesetz soll Belästigungen auf der Straße bestrafen, die Verjährungsfrist verlängern und ein Mindestalter für einvernehmlichen Sex festlegen. Ariane Fornia nimmt diese Entwicklung zufrieden auf. „Ich bin voller Hoffnung. In diesem Moment passiert etwas. Die Frauen begehren auf. Sie werden mehr gehört und ihnen wird mehr geglaubt. Vielleicht entsteht durch dieses Leiden eine echte Veränderung.“

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