Gegen Helikopter-Eltern Die neue Freiheit der Kinder

Washington · Ein Erziehungstrend in den USA setzt auf einen selbstständigen Nachwuchs. Bislang fordert das Gesetz häufig eine lückenlose Überwachung der Jüngsten. Doch das ändert sich allmählich.

 Ein Junge sitzt unbeaufsichtigt auf einer Schaukel in Rockville im US-Bundesstaat Maryland. Für die Eltern könnte das Probleme geben – denn in vielen US-Staaten ist das per Gesetz verboten.

Ein Junge sitzt unbeaufsichtigt auf einer Schaukel in Rockville im US-Bundesstaat Maryland. Für die Eltern könnte das Probleme geben – denn in vielen US-Staaten ist das per Gesetz verboten.

Foto: picture alliance / dpa/Andrea Barthelemy

(kna) Lenore Skenazy schaffte es mit einem einzigen Text, die amerikanische Elternschaft gegen sich aufzubringen. Im Jahr 2008 schrieb sie in der „New York Sun“ eine Kolumne mit dem provokanten Titel „Warum ich meinen neunjährigen Sohn allein mit der U-Bahn fahren lasse“. Das brachte ihr den wenig schmeichelhaften Titel „Amerikas schlechteste Mutter“ ein. Überrascht von den heftigen Reaktionen gründete die Journalistin die „Free-Range-Kids“-Bewegung. Deren Ziel bestand darin, mit dem Vorurteil aufzuräumen, Kinder seien permanent in Gefahr: vor Entführung, Keimen oder nicht-organischen Süßigkeiten.

Die sogenannten „Helikopter-Eltern“, Väter und Mütter, die vor lauter Sorge nonstop ihre Kleinen umkreisen, waren entsetzt. Und sie haben das Gesetz auf ihrer Seite. Wer Kinder allein in Parks, auf Spielplätze oder in öffentliche Verkehrsmittel schickt, ruft im Zweifel die Polizei auf den Plan.

Wie bei einem spektakuläreren Fall in Maryland 2015, als Beamte den zehnjährigen Rafi und seine vier Jahre jüngere Schwester Dvora unweit ihres Zuhauses in Silver Spring auf einem Spielplatz aufgriffen und zum Kindernotdienst brachten.

Der Fall empörte nicht nur die Eltern, sondern löste eine lebhafte Debatte darüber aus, wie viel Behütung notwendig ist. Während die Helikopter-Fraktion das Verhalten der Eltern als unverantwortlich kritisierte, argumentierten die Anhänger der „Free Rangers“ mit dem Wunsch, die Kleinen zu mehr Selbstständigkeit zu erziehen.

Als einer der ersten Bundesstaaten änderte das konservative Utah im März seine Gesetze. Ab sofort dürfen Kinder dort ohne ihre Eltern zur Schule oder zum Spielplatz gehen. Sie dürfen bei normalem Wetter auch für ein paar Minuten allein im Auto bleiben, ohne dass die Polizei einschreitet.

„Wir begleiten unsere Kinder vom Aufstehen bis zum Schlafengehen“, sagt der Bostoner Kinderpsychologe Bobbi Wegner. „Aber das geht tatsächlich zu Lasten der geistigen Gesundheit unserer Kinder.“ Seit der Gesetzesänderung in Utah ist das Thema „Vernachlässigung“ neu definiert.

Und es finden sich Nachahmer. Der demokratische Abgeordnete aus New York, Phil Steck, will ein entsprechendes Gesetz ins Parlament des Bundesstaates einbringen. „Als ich jung war, wurden die Hunde und Kinder nach dem Frühstück rausgelassen und mussten erst zum Abendessen zu Hause sein“, sagt er.

Die Idee, Kinder aus der totalen Kontrolle durch die Eltern in eine Teilautonomie zu entlassen, breitet sich über Parteigrenzen und Regionen hinweg aus. Die konservativen Staaten Texas, Idaho und Arkansas sind auf dem Gebiet ebenso aktiv wie die liberalen Hochburgen Kalifornien, Maryland und New York.

Damit müssen sich nun die Eltern selbst die Kardinalsfrage stellen: Was kann ich von meinem Kind erwarten und was überfordert es? Denn die Gesetzgeber machen weder Altersangaben noch konkretisieren sie, was Kinder im Einzelnen ohne Aufsicht dürfen und was nicht.

Gefragt ist gesunder Menschenverstand. Denn es ist nicht dasselbe, Kinder im ländlichen Utah ins Grüne zu schicken, oder den Nachwuchs unbegleitet durch gefährliche Nachbarschaften in Los Angeles laufen zu lassen. Auch ist nicht jeder Junge und jedes Mädchen reif und bereit, mit dem Fahrrad allein zur Klavierstunde zu fahren. Eltern müssten klug entscheiden, was sie ihrem Nachwuchs zumuten könnten, sagt Stephen Hinshaw, Psychologe an der Berkeley-University in Kalifornien.

Nach einer aktuellen Studie des Brookings Instituts gerieten in der Vergangenheit vor allem einkommensschwache Familien mit dem Gesetz in Konflikt. Während beide Elternteile Geld verdienen, bleiben ihre Kinder aus der Not heraus oft unbeaufsichtigt – die Kehrseite der „Free-Range-Kids“-Bewegung.

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