Opfer fordern 204 Millionen Euro

Madrid · Mehr als 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal hat gestern in Spanien der Schadenersatz-Prozess der spanischen Betroffenen gegen den deutschen Pharma-Riesen Grünenthal begonnen. 180 Opfer fordern insgesamt 204 Millionen Euro.

Einige kamen auf Krücken in den Gerichtssaal, andere im Rollstuhl. Über 50 Jahre nach dem Auffliegen des Contergan-Medikamentenskandals in Deutschland versuchen nun auch die spanischen Opfer eine hohe Entschädigung von dem deutschen Pharma-Riesen Grünenthal zu erstreiten. Vor einem Gericht in der spanischen Hauptstadt Madrid begann ein Zivilprozess, in dem eine Wiedergutmachung von insgesamt 204 Millionen Euro für 180 Betroffene gefordert wird.

Der von Grünenthal hergestellte Wirkstoff Thalidomid, der in Deutschland unter dem Markennamen Contergan vertrieben worden war, konnte bei der Einnahme in den frühen Schwangerschaftsmonaten schwere Fehlbildungen an den Föten und auch Totgeburten provozieren. Während in vielen europäischen Ländern die Überlebenden dieses Arzeimittelskandals entschädigt wurden, kämpften die spanischen Opfer bisher vergeblich um eine Einigung mit dem Konzern. Die Thalidomid-Produkte waren als Beruhigungs- und Schmerzmittel eingesetzt worden.

Den Schätzungen des spanischen Betroffenenverbandes Avite zufolge wurden in Spanien etwa 3000 Kinder geboren, die durch das Medikament Missbildungen an Gliedmaßen und Organen erlitten hatten. Davon leben heute noch annähernd 300 Menschen.

"In anderen Ländern sind feste monatliche Renten für die Betroffenen festgesetzt worden", sagt der 48-jährige Rafael Basterrechea, Vize-Präsident von Avite. "Und das brauchen wir auch. Denn wenn jemand ohne Arme oder Beine geboren wird, kann er nicht arbeiten und benötigt außerdem Hilfe für alle täglichen Dinge." Basterrecheas linker Arm ist nur ein Stummel, die Hand verkrüppelt. Auch der rechte Arm ist nicht richtig gewachsen. Die Ellbogen bewegen sich nicht. "Ich kann nicht einmal so einfache Dinge machen, wie mein Hemd zuknöpfen oder mich kämmen."

Der Opferverband Avite wirft Grünenthal vor, das Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das in Spanien zum Beispiel unter dem Markennamen Softenon vertrieben wurde, nicht rechtzeitig zurückgezogen zu haben. In Deutschland waren die Thalidomid-Medikamente Ende 1961 vom Markt genommen worden. Nach Angaben von Grünenthal wurden die Produkte zeitgleich auch in Spanien zurückgerufen. Der Avite-Verband versucht jedoch mit Dokumenten nachzuweisen, dass die Mittel südlich der Pyrenäen noch bis 1965 im Umlauf waren.

In dem spanischen Contergan-Prozess wird es also auch um die Frage gehen, ob die Risiken des Medikaments vertuscht und spanische Vertriebspartner sowie Ärzte nicht rechtzeitig informiert wurden. Oder ob vielleicht die spanische Arzeimittelaufsicht der damals herrschenden Franco-Rechtsdiktatur versagte.

Ein erstes Vergleichsangebot Grünenthals hatten die spanischen Opfer als "unzureichend" abgelehnt. Die spanischen Betroffenen, sagt ihr Rechtsanwalt Ignacio Martínez, wollten genauso behandelt werden wie die deutschen Opfer. Und diese bekämen "seit dem Jahr 1971 eine Rente", die heute - je nach Schädigungsgrad - mehr als 6000 Euro monatlich betragen kann. In Deutschland werden die Renten über die Contergan-Stiftung ausgezahlt, welche anfangs von Grünenthal finanziert, aber inzwischen vom Staat übernommen wurden.

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