Geschichte im Karton Der archivierte Alltag in der DDR

Berlin · Im Berliner Bundesarchiv werden tausende Dokumente und Schriften aus dem innersten SED-Machtzirkel gehütet.

 Sie ist die Herrin über Aktenberge voller DDR-Geschichte: Stiftungsdirektorin Simone Walther-von Jena im Bundesarchiv.

Sie ist die Herrin über Aktenberge voller DDR-Geschichte: Stiftungsdirektorin Simone Walther-von Jena im Bundesarchiv.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Zwei blasse Seiten mit Schreibmaschinenschrift liegen in einem grauen Karton im Raum M 213 bei 55 Prozent Luftfeuchtigkeit und 18 Grad Celsius. Das unscheinbare Papier im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde ist Weltgeschichte: Es ist die Regelung vom 9. November 1989, mit der DDR-Bürgern Reisen in den Westen erlaubt werden sollten und die dann eine ungeahnte Brisanz bekam.

Das Papier aus dem SED-Politbüro, dem höchsten Machtzirkel der DDR, gehört zu den Unterlagen, die die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Berliner Teil des Bundesarchivs aufbewahrt. Das geschichtsträchtige Papier gehört inzwischen zum Welt-Dokumenten-Erbe der Unesco. Chefin der Masse von Akten ist Simone Walther-von Jena. Mehr als zwölf laufende Kilometer Schriftgut, 1,6 Millionen Fotos, rund 8 000 Tonaufnahmen und 14 000 Plakate gehören zum Bestand der Stiftung, die 1993 gegründet wurde. Der SED-Bestand ist hier unter DY 30 zu finden.

Das riesige Potenzial für Wissenschaft und private Recherchen liegt ordentlich sortiert in säurefreien Kartons, beschriftet und gestapelt in langen, beweglichen Regalreihen. Doch für die Massenorganisationen der DDR gebe es kein besonders großes Interesse, sagt Walther-von Jena. „Das ist vernachlässigt, dabei stehen viele Papiere bereit.“ Es gebe zu wenige Forschungsaufträge. Die promovierte Historikerin bedauert auch, dass es keinen Lehrstuhl für DDR-Geschichte gibt.

80 Prozent der einst geheimen Unterlagen habe sie mit ihren rund 50 Mitarbeitern erschlossen, sagt die Archivdirektorin. Die Akten aus dem Büro von Egon Krenz, dem letzten SED-Chef, hat die 60-Jährige selbst aufbereitet. Sie zeigt einen Bericht aus dem Herbst 1989 über eine „Ansammlung“ von Einwohnern in der Leipziger Nikolaikirche. Vermerkt ist die Auflösung durch den „Einsatz von Sonderausrüstung“.

Auch Nachlässe von DDR-Größen wie SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, der 2015 starb, sind hier auf dem Gelände der ehemaligen Preußischen Hauptkadettenanstalt im Berliner Ortsteil Lichterfelde zu finden. Schriftstücke von SED-Chef Walter Ulbricht verwahrt die Stiftung ebenfalls im Bundesarchiv. Ulbricht ging mit der Lüge „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ in die Weltgeschichte ein.

Auf der Reiseverordnung vom 9. November 1989 ist das Wort „zeitweilig“ handschriftlich durchgestrichen. Ab wann die Regelung gelten sollte, ist nicht vermerkt. All das führte letztlich dazu, dass Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz an jenem Abend stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort... unverzüglich“. Die Mauer fiel. Der kleine Zettel, den Schabowski noch dabei hatte, ist im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen.

Obwohl so umfangreiches Material überliefert wurde, das nach dem Mauerfall Staatsanwaltschaften für die strafrechtliche Verfolgung von DDR-Unrecht sowie Enquete-Kommissionen des Bundestages für die gesellschaftliche Aufarbeitung nutzten, gibt es auch Lücken. „Die zentrale Mitgliederkartei der SED, die Registratur mit vertraulichen Verschlusssachen (VVS) und Finanzunterlagen sind von den Funktionären selbst vernichtet worden“, sagt die Archivarin.

1600 Anfragen jährlich werden jetzt im Schnitt gestellt. Ein Drittel davon kommt laut Archivchefin von Privatleuten. „Das Interesse steigt, über Biografien von Familienangehörigen etwas über die DDR-Geschichte zu erfahren.“ Jeder könne kommen, es gibt auch einen Lesesaal. Walther-von Jena findet auch, dass jetzt, bald 30 Jahre nach dem Mauerfall, das Alltagsleben in der DDR stärker beleuchtet werden sollte. „Die Stasi war nicht alles.“

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