Das erfundene Verbrechen

Darmstadt/Völklingen · Fünf Jahre saß ein Lehrer aus Völklingen als vermeintlicher Vergewaltiger unschuldig im Gefängnis. Nun muss die Kollegin, die ihn der Tat bezichtigte, selbst hinter Gitter.

Helga Arnold ist nach der Entscheidung des Landgerichts Darmstadt nicht erleichtert. "Dieses Urteil bringt mir meinen Sohn nicht zurück", sagt die 77-Jährige. Ihr Sohn Horst Arnold musste 2001 wegen einer angeblichen Vergewaltigung ins Gefängnis. Doch er war unschuldig, wie sich erst viele Jahre später herausstellte. Weil er seine Unschuld beharrlich beteuerte, musste er seine fünfjährige Freiheitsstrafe bis zum letzten Tag absitzen. Als er im Oktober 2006 freikommt, ist er ein gebrochener Mann. "Er hatte seine Freiheit verloren, seinen Beruf, sein Ansehen, seine Freunde, sein Vermögen", sagt sein Anwalt.

Arnold sollte sich im August 2001 in einem Vorbereitungsraum einer Schule in Reichelsheim im Odenwald an einer Kollegin vergangen haben, urteilte eine andere Kammer des Landgerichts Darmstadt damals. Er galt als brutal und als Trinker. Erst im Jahr 2011 spricht ihn das Landgericht Kassel frei. "Die letzten zehn Jahre waren die Hölle", sagte der damals 52-Jährige am Tag der Entscheidung. Sein früheres Leben bekommt er aber nicht mehr zurück. Seinen Beruf als Lehrer kann er nicht mehr ausüben, er lebt wieder im Saarland, von Hartz IV. Ein Jahr nach dem Freispruch stirbt der Mann auf offener Straße in Völklingen an Herzversagen - an dem Tag, an dem die Staatsanwaltschaft in Darmstadt das Ermittlungsverfahren gegen seine Ex-Kollegin abschließt.

Gestern nun schickte das Gericht die Frau für fünf Jahre und sechs Monate in Haft. Die inzwischen 48-Jährige hat die Vergewaltigung dem Richterspruch zufolge frei erfunden.

Dass der Justizirrtum elf Jahre nach dem ersten Richterspruch nicht wieder gutzumachen ist, bedauert gestern auch die Vorsitzende Richterin Barbara Bunk. Aber das Gericht habe damals aufgrund der Beweislage nicht anders entscheiden können. Bei ihrer Urteilsbegründung nimmt sich Bunk die Zeit, die skurrilen Geschichten der 48-Jährigen auseinanderzunehmen: "Die Angeklagte hat einen Hang zum Drama." Ein wirkliches Motiv für die Beschuldigungen gibt es nach Ansicht der Richterin nicht. Die Frau habe eine psychische Störung, neige zum maßlosen Übertreiben.

Zum Schluss ihrer Begründung wendet sich die Richterin an die Zuschauer. Unter ihnen sitzt neben Mutter Helga auch Horst Arnolds Bruder Steffen (48). Bunk entschuldigt sich bei den "Angehörigen, die die ganzen Jahre mitgelitten haben. Verlorene Jahre kann niemand zurückgeben." Aber heute wisse das Gericht mehr als damals. Dennoch: "Es ist nicht möglich, die Zerstörung einer Existenz rückgängig zu machen."

Die Wende in dem spektakulären Fall leitete eine Frauenbeauftragte des zuständigen Schulamtes ein. Als sie feststellte, dass das vermeintliche Opfer auch in anderen Fällen reihenweise Lügen auftischte, wurde sie stutzig. Die Frau bat ihren Bruder, sich des Falls anzunehmen. Rechtsanwalt Hartmut Lierow erstritt schließlich in Kassel den Freispruch.

Nach der Verurteilung der 48-Jährigen erwähnen Arnolds Angehörige immer wieder Lierows Namen. Ihm sei viel zu verdanken, nun sei endlich die Verurteilung da. "Wir sind dort angelangt, wo wir hinwollten", sagt Steffen Arnold. "Das zeigt auch, dass unser Rechtsstaat nach all den Jahren doch noch greifen kann."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort