Neunkircher Ehrgeiz

Neunkirchen · Über 1500 Quadratmeter Raum für die Kultur: „Kult“ heißt das neue Kultur- und Bildungszentrum im umgebauten Neunkircher Bürgerhaus. Ein neues Hüttenstadtmuseum geht an den Start und die Städtische Galerie ist nun ein Top-Ausstellungsort.

 Doppelte Ausstellungsfläche: Die Städtische Galerie im neuen Kultur- und Bildungszentrum der Stadt Neunkirchen. Foto: iris Maurer

Doppelte Ausstellungsfläche: Die Städtische Galerie im neuen Kultur- und Bildungszentrum der Stadt Neunkirchen. Foto: iris Maurer

Foto: iris Maurer

Bescheidenheit und Aufschneiderei marschieren in Neunkirchen Seit' an Seit' - ein unwiderstehliches Duo. Man kann nur gratulieren. Einerseits wird ein industriegeschichtliches Museum angekündigt. Doch die Stadt besitzt gar keine nennenswerte Sammlung, auch fehlt ein Kurator. Andererseits wird von einem "Umzug" der Städtischen Galerie gesprochen - eine charmante Untertreibung für eine Verdoppelung der Fläche. Bisher logierte die 214-Quadratmeter-Galerie im beengten alten Amtsgericht. Es liegt in direkter Nachbarschaft des zum Kultur- und Bildungszentrum erweiterten Bürgerhauses, das leer stand, seit die Veranstaltungen in die Reit- und Gebläsehalle aufs Hüttenareal verlegt wurden.

"Wir begreifen Kultur als Instrument der Stadtentwicklung", sagt Oberbürgermeister Jürgen Fried (SPD ). Als einzige Saar-Kommune hat sich Neunkirchen 2010 einen Kulturentwicklungsplan gegeben. Schon zuvor ackerte ein Förderverein für eine attraktivere Unterbringung der Städtischen Galerie. Die hat jetzt allerdings nicht nur das Gebäude gewechselt, sondern hat sich gewissermaßen neu erfunden. Es ist ein staunenswerter Anblick, der sich im ehemaligen Zuschauerraum des Bürgerhauses im ersten Obergeschoss bietet. Sieben Meter (!) Höhe, verschiebbare Stellwände, hochwertiger Vollholzboden: Offenheit, Großzügigkeit. Das ist der Wechselausstellungsbereich, der, man darf den Vergleich wagen, an den Wechselausstellungspavillon der Saarbrücker Modernen Galerie erinnert. Die frühere Empore wurde durch eine verglaste Balustrade mit dem Saal verschmolzen. Trotzdem bleibt sie als eigenständiger Ausstellungsort erkennbar und separat zugänglich. Hier findet endlich die Sammlung Wolfgang Kermer einen angemessenen Platz, die rund 300 Exponate umfassende Schenkung des früheren Rektors der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, der aus Neunkirchen stammt.

Zur Eröffnung sind 48 grafische Arbeiten zu sehen, unter anderem große Namen wie Arnulf Rainer , Alfred Hrdlicka , K.R.H. Sonderborg oder Otto Herbert Hajek. Das ist allemal sehenswert, doch die große Oper spielt eine Etage tiefer, bei "Open Spaces". Es geht um Landschaftsdarstellungen in der heutigen Kunst. Es ist ein großer Aufschlag. Die Auswahl von Galerieleiterin Nicole Nix-Hauck besticht, ihre Hängung hat der Versuchung des Zuviel widerstanden - eine Augenweide, eine Feier der neuen Präsentationsmöglichkeiten für extreme Großformate.

Trotz der Konzentration auf zehn Künstler sind Malerei , Grafik, Fotografie und Medienkunst vertreten. Jochen Hein täuscht uns mit der fotografischen Illusion aufgepeitschter Meereswellen, die sich aus der Nähe in ein betörendes abstraktes Bild verwandeln. Stephan Kaluza liefert ein neun (!) Meter langes Strand-Foto aus der Normandie. Ein Idyll, das an impressionistische Malerei eines Albert Weisgerber erinnert, jedoch eine Weltkriegs-Wende verbirgt: "Omaha Beach". Hier landeten am 6. Juni 1944 die Alliierten. Das sind nur zwei von zehn überzeugenden Positionen, darunter auch eine regionale; Mane Hellenthal steuerte Brandneues bei.

Und was bietet das Hüttenstadtmuseum, das die 400-jährige Geschichte der ältesten saarländischen Eisenhütte in ihrem sozialen Umfeld spiegeln will? Keine Vitrinen-Schau, keine mittelalterlichen Dokumente, keine sozialhistorische Aufarbeitung, keine Maschinen-Exponate, sondern eine schlichte Foto-Ausstellung "Neunkirchen 0.1. Perspektiven zur Eisenzeit". Man erlebt keine Überraschungen, aber eine konzentrierte, gelungene Mischung aus künstlerischen und journalistischen Auseinandersetzungen mit dem "Todeskampf" der Hütte Ende der 70er Jahre. Zeitzeugen-Interviews auf Videos in zwei separaten Räumen ergänzen das Angebot, das einen ästhetisch-kunsthistorischen Zugriff verrät und eben dadurch punktet. Respektable 350 Quadratmeter stehen zur Verfügung, der Horizont spannt sich zwischen dem berühmten Reportage-Meister Robert Lebeck und regionalen Fotografen (Willi Hiegel, Hans Huwer, Werner Rauber, Ulrike Zimmermann).

"Das ist ein temporärer erster Aufschlag. Das Museum muss wachsen", sagt Neunkirchens Stadtsprecher Markus Müller. Wohl wahr. Sonst fällt Neunkirchen hinter den eigenen, von OB Fried formulierten Anspruch zurück.

Heute (Sa) 13 bis 18 Uhr: Tag der offenen Tür. 13 Uhr: Vernissage "Open Spaces", 14 Uhr: Eröffnung Hüttenstadtmuseum. Marienstr. 2, (06821) 29 00 621.

Meinung:

Die Macht des Faktischen

Von SZ-Redakteurin Cathrin Elss-Seringhaus

Während sich St. Ingbert seit acht Jahren mit seinem Baumwollfabrik-Projekt quält, läuft in Neunkirchen Kulturpolitik nach dem Motto: Wir fangen schon mal an, und wir setzen dabei auf die Fortschritt auslösende Macht des Faktischen. Auf diese Art wuchs aus einer Amateur-Initiative die "Musicalstadt" mit einer repräsenta blen, bestens ausgelasteten Gebläsehalle. Ähnliches wäre beim Hüttenstadtmuseum wiederholbar. Es könnte sich zu einem landesweit beachteten Ort für die Sozialgeschichte der Industrieära entwickeln. Klein und fein.

Schade, dass sich in Neunkirchen kein architektonischer Ehrgeiz eingestellt hat. Mit der roten Bürgerhaus-Hülle muss die Stadt weiter leben.

 Hans Huwers historische Fotografie „Abriss areal Neunkircher Eisenwerk“. Foto: Huwer/Galerie

Hans Huwers historische Fotografie „Abriss areal Neunkircher Eisenwerk“. Foto: Huwer/Galerie

Foto: Huwer/Galerie

Zum Thema:

HintergrundDas Bürgerhaus wurde durch einen Verbindungstrakt erweitert und mit dem alten Amtsgericht (bisher Sitz der Städt. Galerie) verzahnt. Eingriffe in drei Gebäude waren notwendig. Kosten: 1,3 Millionen Euro, hälftig finanziert vom Saar-Innenministerium aus dem EU-Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Bauzeit: Juli 2014 bis November 2015. Integriert sind das neue Hüttenstadtmuseum, die Stadtbücherei, die Städtische Galerie, VHS, Probenräume, Kinderatelier, Kulturgesellschaft. ce

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