Netto ist wichtiger als brutto

Meinung · Tarifforderungen von sechs Prozent und mehr stehen im Raum und sind ernst gemeint. Wann, wenn nicht jetzt in den guten Jahren, sagen sich die Gewerkschaften. Die schwarz-gelbe Regierung ermuntert die Arbeitnehmer dabei sogar. Die ersten Warnstreiks zeigen, dass die Bereitschaft für eine heiße Tarifrunde groß ist.Die Arbeitgeber befinden sich im argumentativen Notstand

Tarifforderungen von sechs Prozent und mehr stehen im Raum und sind ernst gemeint. Wann, wenn nicht jetzt in den guten Jahren, sagen sich die Gewerkschaften. Die schwarz-gelbe Regierung ermuntert die Arbeitnehmer dabei sogar. Die ersten Warnstreiks zeigen, dass die Bereitschaft für eine heiße Tarifrunde groß ist.Die Arbeitgeber befinden sich im argumentativen Notstand. Die Arbeitsmarktlage, die Erträge, die vollen Auftragsbücher, die Exporterfolge - all das spricht für kräftige Zuwächse. Und auch, dass Deutschland bei den Einkommen der Beschäftigten nach jahrelangem Verzicht einen Nachholbedarf hat. Doch ebenso richtig ist die Analyse, dass Deutschlands Vorsprung so groß und stabil nicht ist, als dass er nicht schnell verspielt werden könnte. Es geht um Konkurrenzfähigkeit, und die Wettbewerber schlafen nicht. Zweitens hängt über der jetzigen guten Konjunktur schwer und drohend das Damoklesschwert der Eurokrise, die schnell zu einer globalen Wachstumskrise werden kann.

Vorsicht ist und bleibt also die Mutter der tariflichen Porzellankiste. Gewinne, die im Jahr 2011 gemacht wurden und wahrscheinlich 2012 gemacht werden, sollte man besser anders verteilen, als über eine dauerhafte Anhebung des Lohnniveaus: Nämlich über Einmalzahlungen, die durchaus kräftig sein können. Ansonsten muss der Produktivitätszuwachs der Maßstab bei der Anhebung des Vergütungsniveaus bleiben - wenn man denn seinen Vorsprung halten will. Das ist aber nicht das Einzige. Für die Arbeitnehmer ist mehr netto ungleich wichtiger als mehr brutto. Das ist auch für den Binnenkonsum wirksamer. Und deshalb liegt die Beantwortung der berechtigten Frage, wie die Beschäftigten stärker am Aufschwung beteiligt werden können, nicht allein bei den Tarifpartnern. Sondern auch bei der Regierung. Sie könnte und müsste endlich die kalte Progression bei der Einkommensteuer abmildern, die bisherige Lohnfortschritte aufgefressen und dem Staat Extra-Einnahmen beschert hat. Das setzt freilich die Bereitschaft der Koalition zu substanziellen Verhandlungen mit den Ländern voraus. Weiterhin könnte und müsste die Regierung die Sozialabgaben senken, etwa durch eine Verteilung der aktuellen Überschüsse der Krankenkassen. Und drittens könnte und müsste sie die gute wirtschaftliche Lage dazu nutzen, die vielen prekären Arbeitsverhältnisse abzubauen, angefangen mit einem allgemeinen Mindestlohn. Das ist den Arbeitnehmern derzeit fast genauso wichtig wie Tarifanhebungen.

Es ist wohlfeil, wenn die Regierung jetzt Sympathien für die Lohnforderungen der Gewerkschaften ausspricht. Denn sie hat das nicht auszubaden, nur die Wirtschaft. Im eigenen Verantwortungsbereich zu handeln, ist offenbar viel schwerer.

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