Lesbos/Athen Nur ein Tropfen auf den heißen Stein

Lesbos/Athen · Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos wollen Deutschland, Frankreich und andere EU-Staaten 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen.

Obdachlos gewordene Migranten schlafen am Straßenrand nahe des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos.

Obdachlos gewordene Migranten schlafen am Straßenrand nahe des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos.

Foto: dpa/Petros Giannakouris

Familien mit Kindern, Junge, Alte, Kranke haben ihre Decken am Straßenrand auf dem nackten Asphalt ausgebreitet. Als Kopfkissen dienen Plastiktüten mit dem Wenigen, was die Menschen aus Moria retten konnten – oder auch einfach nur die Bordsteinkante. Direkt neben ihren Köpfen stehen Wasserflaschen – sie gehören jetzt zu den wertvollsten Besitztümern. Denn egal wohin die mehr als 12 600 Migranten vor dem verheerenden Feuer von Moria geflohen sind, nirgends gibt es fließendes Wasser oder Toiletten, geschweige denn Zelte oder Wohncontainer. Vielfach sind auch die Papiere der Menschen den Flammen zum Opfer gefallen: Container des Europäischen Asyl-Büros sind bei dem Großbrand von Moria abgebrannt – die Bearbeitung der Asylanträge wurde bis auf weiteres eingestellt.

Der Zugang zur Inselhauptstadt Mytilini wird den Menschen schon mehrere Kilometer entfernt von der Polizei versperrt – die Einwohner haben Angst vor Corona und davor, dass Tausende ohne Unterkünfte und Verpflegung in die 37 000-Einwohner-Stadt pilgern. Deshalb rotieren andere, beispielsweise die rund 80 Mitarbeiter, die für die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) auf der Insel arbeiten. Sie versuchen gemeinsam mit den griechischen Behörden, das Unmögliche möglich zu machen: 12 600 Obdachlose aus dem Stand mit Essen, Wasser und Decken zu versorgen. „Wir müssen sicherstellen, dass es genug gibt, dass es mit der Verteilung klappt und dabei die Corona-Abstandsregeln eingehalten werden“, beschreibt IRC-Mitarbeiterin Martha Roussou die Herausforderung. Ängste, Sorgen, Kritik und auch Aggressionen von Seiten der Einwohner nehmen unterdessen zu: „Einwohner blockieren die Straße und halten uns davon ab, zu unserer medizinischen Einrichtung und zu jenen zu gelangen, die noch im zerstörten Camp sind“ tweetete etwa die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am Donnerstag. Roussou kann den Unmut der Einwohner bedingt verstehen: „Die Situation ist seit fünf Jahren unverändert“, erklärt sie. Bezeichnenderweise wollten Flüchtlinge und Einwohner sogar dasselbe, nämlich die Insel verlassen. Geeint sind sie zudem gemeinsam mit den Helfern in der Fassungslosigkeit über das Unvermögen der EU, für die Flüchtlingsfrage eine Lösung zu finden.

Keine endgültige Lösung, aber eine erste Hilfsmaßnahme kündigten Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag an. Demnach wolle man, zusammen mit anderen EU-Ländern, 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Die Zahl gelte für alle teilnehmenden EU-Länder – wie viele davon Deutschland übernehmen würde, stand am Donnerstag zunächst aber nicht fest. Im Hinblick auf die hohe Zahl an Flüchtlingen wird dieser Beschluss auch kritisch gesehen – als Tropfen auf den heißen Stein. Roussou vom IRC sagt: „Es ist schön, dass jetzt nach dem Brand endlich 400 unbegleitete Minderjährige von Lesbos aufs Festland geholt werden und von anderen europäischen Staaten aufgenommen werden sollen. Allerdings gibt es auf den anderen Inseln weitere 400 solcher Fälle.“

Was eine europäische Lösung für die Krise betreffe, sei man zwischen zwei populistischen Denkweisen gefangen, bilanzierte der stellvertretende griechische Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos am Donnerstag: Europaweit werde rechts der Mitte gefordert, die Menschen quasi zurück ins Meer zu drängen, auf der politisch Linken dafür plädiert, sie alle aufzunehmen – was beides nicht ginge. Zudem gebe es die Solidarität Europas immer nur bei großen Krisen wie jetzt dem Brand. Er wünsche sich, dass es gerade auch in ruhigeren Zeiten Unterstützung gebe, etwa um die Inseln zu entlasten.

Dass einige der Moria-Bewohner die Brände selbst gelegt haben, steht derweil für die griechische Regierung fest. „Sie haben es gemacht, weil sie glaubten, wenn Moria brennt, könnten alle die Insel verlassen“, sagte Regierungssprecher Petsas am Donnerstag und versicherte, das werde trotzdem nicht geschehen. Denn was wäre die Folge? Griechenland hat nicht nur Moria, sondern auch Lager auf den Inseln Chios und Samos und auf dem Festland. „Muss erst jedes Lager brennen, damit von Europa geholfen wird?“, fragen sich viele.

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