Zwischen Psychoanalyse und Bibellektüre

Saarbrücken · Emmanuel Carrère kann die christliche Lehre nicht mehr glauben. Gerade darum schreibt er über „Das Reich Gottes“. In seinem 500 Seiten starken Buch vermischen sich Autobiografie, Bibelexegese und Philosophie auf anregende, nie langweilige Weise, findet SZ-Mitarbeiter Roland Mischke.

Nur wer die Wahrheit erkennen will, wissend, dass es nur Wahrheiten gibt, wird zum Menschen. Nur wer andere in Gespräche verwickelt, ist überzeugend als Person. Nur wer mit Gott ringt, bildet sein Ich aus. Der Pariser Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur Emmanuel Carrère, 58, ist in Frankreich ein Literaturstar. Er hat seine Angst überwunden, scheut nicht die Unmöglichkeit der Liebe, ist mutig, offen, tiefsinnig und will seinen Lesern dazu verhelfen, ihr eigenes Leben und die menschliche Existenz zu verstehen. Das ist großartig. Mit Carrères Sachbuch, das auch Roman, Autobiografie und Bibelstundenstoff ist, haben wir eines jener Bücher, deren Lektüre lebensverändernd sein kann. Carrère hat als geläuterter Christ und schließlich Agnostiker - einer, der philosophiert, ob die Existenz Gottes als höchster Instanz ungeklärt, aber dennoch sinngebend ist - ausdauernde Selbstinspektion betrieben. Das schildert er in faszinierend locker verfassten Reportagen, die zugleich eine Historien- und eine biografische Suche ist.

"Das Reich Gottes" passt genau in unsere Zeit, in der die Religionen wieder an Bedeutung gewinnen, nicht immer zum Vorteil der Menschen. Hier aber schon, denn dies ist ein ehrliches, persönliches Buch mit enorm vielen Anregungen.

Carrère liefert eine Doppelbiografie zweier zentraler Figuren des frühen Christentums: Lukas, der Evangelist, und Paulus, der Apostel. Ihr Leben und ihre Arbeit werden inspiziert, befragt, bewertet. Am Anfang dominiert die Existenzkrise Carrères in den neunziger Jahren, als er schon ein prominenter Autor war, aber in eine Leere kippte. "Ich konnte nicht mehr schreiben, ich verstand nicht zu lieben, und mir wurde bewusst, nicht liebenswert zu sein", schreibt er. "Ich zu sein wurde mir buchstäblich unerträglich." Aus dem Burn-out rettete er sich zu seiner Patentante, einer strammen Katholikin, die ihm tägliche Bibellektüre aufdrängte. Da kam der Satz, den er gebraucht habe in jener Zeit, so Carrère, "der für mich gemacht ist". Er stammt aus dem Johannes-Evangelium. Jesus spricht zu Petrus: "Wahrlich, ich sage dir, als du jung warst, gürtetest du dich selber und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt sein wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich dorthin führen, wohin du nicht gehen wolltest."

Der psychisch gebeutelte Intellektuelle findet darin eine Art von Erlösung. Er schreibt Kladden voll mit seinen Gedanken, geht zwei Mal pro Woche zur Psychoanalyse und schaut, lange zurückgezogen, in sich hinein. Er will glauben, kann es aber nicht - all das wird von Carrère nicht verkrampft, sondern sympathisch beschrieben auf den ersten hundert Seiten. Man folgt Emmanuel Carrère gern auf diesem Weg, man kennt das so oder ähnlich.

Auch da, wo es an den Beispielen von Lukas und Paulus durch die Hölle geht, wo sich Erkenntnisse einstellen (Erleuchtung) und der Gewissenskampf einsetzt (Schuldgefühl). So sind diese Menschen zu starken Persönlichkeiten geworden, zu Lehrern, Missionaren, Menschenfreunden. Alles, was sie an inneren Kämpfen durchgemacht haben, machen alle mehr oder weniger durch - bis heute. Einige, wie Carrère, suchen noch anderswo Bestätigung. Bei Nietzsche etwa, der Autor las eine Zeitlang jeden Morgen ein paar Seiten von ihm. Denn auch der 1900 in Weimar gestorbene Philosoph kannte diese Kämpfe, ihm fühlt sich Carrère verbunden. Diese Offenheit wird zum magischen Umschlagspunkt im Leben.

Emmanuel Carrère hat seine gute Nachricht gefunden, auf griechisch: ein Evangelium. Sein Buch ist anregend, vital, aufregend über 500 Seiten lang.

Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 524 S, 24,90 €.

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