Wo und wie die Welt noch zu begreifen ist

Saarbrücken · Zehn Jahre lang hat Juli Zeh an ihrem neuen Roman gearbeitet, der ein Heimatroman im besten Sinne geworden ist. „Unterleuten“ kommt ohne Idealisierungen aus, kennt aber die Vorzüge überschaubarer Strukturen.

 Eine der produktivsten zeitgenössischen Autorinnen: Juli Zeh (41), die Jura studierte und 2010 in Saarbrücken promoviert wurde. Neben Stücken und Essays schrieb sie bislang fünf Romane.

Eine der produktivsten zeitgenössischen Autorinnen: Juli Zeh (41), die Jura studierte und 2010 in Saarbrücken promoviert wurde. Neben Stücken und Essays schrieb sie bislang fünf Romane.

Foto: Kalaene/dpa

Der Gesellschaftsroman ist heute so gut wie tot. Man kann nicht mehr wie Balzac, Tolstoi oder Thomas Mann schreiben; allenfalls US-Autoren wie Jonathan Franzen (oder ostdeutsche wie Uwe Tellkamp und Lutz Seiler) haben noch den Ehrgeiz, Geist und Atmosphäre einer Epoche in großen Panoramen zu schildern. Juli Zeh wollte sich immer mal in der "literarischen Königsdisziplin" versuchen. Jetzt legt sie einen voluminösen gesamtdeutschen Gesellschaftsroman vor, der in seinem Figurenreichtum (und auch in seinem entschleunigten Erzählstil) an russische Romane des 19. Jahrhunderts erinnert.

Das 250-Seelen-Dorf Unterleuten ist ein Mikrokosmos deutscher Gegenwart, 60 Kilometer von Berlin entfernt in der Provinz, aber nicht hinterm Mond gelegen. Finanzkrise, Politikverdrossenheit, Digitalisierung, Umwelt- und Naturschutz sind auch im Hinterland angekommen. Zeh beschreibt den Alltag und die Beziehungen im Dorf mit dem analytischen Scharfsinn der theorie- und debattenerfahrenen Intellektuellen. Sie kennt alles aus eigener Erfahrung; schließlich lebt sie seit 2007 in einem kleinen Dorf im Havelland. Abstrakte Ideen, kollektive Zustände, soziologische Typen sind bei ihr daher immer konkrete Menschen.

Da ist etwa Gerhard, ein Grüner der ersten Stunde, der seinen prekären Job als Soziologiedozent hinschmiss, um fern von "Raubtierkapitalismus" und akademischen Eitelkeiten Erfüllung als Naturschützer und Biobauer, Retter des bedrohten Kampfläufers und "Held des Bewahrens" zu finden. Jule, seine junge Frau, hat ein noch wichtigeres Projekt: Weltverbesserung durch Kinderkriegen. Aber es kann der Sanftmütigste nicht in Frieden leben, wenn der böse Nachbar lärmend an Autos herumschraubt und alte Reifen verbrennt. Linda Franzen wiederum, Pferdeflüsterin und toughe Powerfrau, und ihr Freund Frederic, ein nerdiger Game-Designer, verkörpern als "wandelnde Selfies" das neue Zeitalter "bedingungsloser Egozentrik". Oder wie es der verbitterte Altsozialist Kron, eines von Zehs Lieblingssprachrohren, formuliert: "Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager seiner eigenen Biografie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt." Krons Widersacher seit DDR-Zeiten ist der alte Grobian Gombrowski, damals Leiter der LPG, heute als Chef eines Landmaschinenverleihs wieder obenauf.

Unterleuten ist ein System von Beziehungen, das seit ewigen Zeiten im eigenen Saft schmort. Zuzügler rühren den fauligen Sumpf höchstens ein wenig um. Bewegung in den Stillstand kommt erst mit dem Windpark, den ein westdeutscher Investor im Dorf errichten will. Aus dem Heimatidyll wird ein Thriller, aus Don Quichottes Windmühle ein Symbol der neuen Zeit. Kinder werden entführt, Katzen massakriert, Gutmenschen zu Kampf- und Amokläufern. Überall brechen Fronten auf: Alt gegen Jung, Kinder gegen Eltern, Frauen gegen Männer, Wendegewinner gegen Verlierer, Wessis gegen Ossis, Land gegen Stadt.

Das Dorf ist für Juli Zeh im Gegensatz zur "uneigentlichen" Stadt ein menschlicher Ort. "Heimat wird nicht aus Mietshäusern und Straßenbahnen, sondern aus Erde und Horizonten gemacht." Städter sind "Menschen ohne Erinnerung" und Geschichte. Dörfler sind Fatalisten, "die noch während des Weltuntergangs die Ellenbogen auf den Gartenzaun stützten und Sätze wie ‚Irgendwas ist immer‘ sagten". Zeh idealisiert das Leben auf dem Land nicht. Es herrscht hier auch soziale Kontrolle, der Terror der Intimität, plötzlich aufbrechende Gewalt.

Das Netz der dörflichen Zusammenhänge aber macht "die Welt zu einem kleinen, begreiflichen Ort". Zeh beschreibt dieses Beziehungsgeflecht mit kühlem soziologischem Blick, aber auch ganz nah, mit Liebe zum Detail, Humor, Ironie. In Unterleuten kann man sich, wie in einer guten TV-Serie, daheim fühlen. Das ist vielleicht der einzige Schwachpunkt des Romans: Unterleuten ist so gemütlich wie das Musterdorf eines Modelleisenbahners, der Tonfall fast biedermeierlich realistisch.

Juli Zeh geht bekanntlich keiner Feuilletondebatte oder Talkshow aus dem Weg und ist für ihre Dauerengagement schon als "Jeanne d‘Arc des Digitalzeitalters" verspottet worden. In "Unterleuten" zeigt sie jetzt, dass man auch im stillsten Winkel der Welt von der Globalisierung eingeholt wird, aber das Dorf trotzdem als Utopie verteidigen kann und muss.

Juli Zeh: Unterleuten. Luchterhand, 640 S., 24,99 €.

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