Wenn Theater tödliche Realität wird

Saarbrücken · Radikaler und streitbarer kann Theater kaum sein: Das Künstlerkollektiv Markus & Markus macht den Freitod einer 81-Jährigen öffentlich und baut darum herum einen trashigen Abend.

 Friede sei mit Margot: Markus & Markus in Aktion. Foto: Junicke

Friede sei mit Margot: Markus & Markus in Aktion. Foto: Junicke

Foto: Junicke

Es war das radikalste Stück der diesjährigen Perspectives. Sein Titel "Ibsen: Gespenster" führt gezielt in die Irre. Denn mit Ibsen hat dieser Abend nur am Rand zu tun. Vielmehr ist das, was das Hildesheimer Künstlerkollektiv Markus & Markus am Donnerstag und Freitag in der Feuerwache auf die Bühne brachte, ein für das Publikum an die Grenzen des Zumutbaren gehender Tabubruch: Per eingespielten Videoprojektionen werden wir Zeuge des Freitodes einer 81-Jährigen, die am 1. Mai 2014 in einer Schweizer Sterbehilfepraxis ihrem Leben ein Ende setzt.

Das Künstlerkollektiv hatte Margot zuvor dort gewissermaßen akquiriert ("wir haben eine ideale Protagonistin gefunden") und ihre Einwilligung dazu erhalten, sie in den letzten drei Wochen ihres Lebens zu begleiten (Wäscheaufhängen, Anstoßen mit Sangria, Abschiedsbriefe und gemeinsame Vorab-Besuche an ihrem Grab). Und zuletzt auch den Sterbevorgang mit der Kamera festzuhalten.

Was, wie es im "Tagesspiegel" hieß, nach einem "Dokumentarsozialporno" klingt, ist letztlich ein von einer trashartigen Text- und Theatercollage eingefasster, ebenso anrührender wie irritierender Werbefilm für Sterbehilfe. Die eingespielten Doku-Sequenzen zeigen eine entschlossen, ja fast heiter in den Tod gehende Frau, die an einem multiplen, "therapieresistenten Schmerzsyndrom" sowie unter (zwei Suizidversuche in den 80ern auslösenden) Depressionen leidet. "Ich bin ausgebrannt, auch wenn's nicht so aussieht", sagt sie - tatsächlich geht diese Frau geradezu mit einer gewissen Vorfreude in den Tod. - Das Unbehagen, das man dabei empfindet, hat weniger mit jenem erschreckenden Enthusiasmus zu tun, von dem eine Freundin Margots in einem der verlesenen Abschiedsbriefe schreibt. Eher damit, dass die provokante Art, mit der Markus & Markus diesen Freitod inszenatorisch aufladen, immer ein wenig im Verdacht der Selbstgefälligkeit steht: Seht her, was wir uns trauen! Ein Hauch von Pioniergehabe liegt über allem.

Was man diesem Klamauk ("Dinner for one"-Anleihen) und Parodie (das theatralische Eingangspotpourri berühmter Todesszenen in Oper und Drama) mit Anmut kurzschließenden, Schlingensief'sche Züge annehmenden Abend nicht vorwerfen kann, ist hingegen Skandalisierungslust. Hinterfragt wird unser pharisäerhaftes Verhältnis zum Tod: sein "Bürokratisieren" und schamhaftes Wegsperren. Mal mit Zylinder, mal im Schnitterkostüm, brüllen uns Markus & Markus das amtsärztliche Bulletin über Margot entgegen und verhackstücken den Entstehungsprozess ihrer Produktion - ihre Suche nach einer sterbewilligen Stück-Protagonistin in der Schweiz; ihr Briefverkehr mit "Freitodbegleitern"; Absprachen mit Margot übers Bühnenbild; Recherchen über das tödliche Infusionsmittel Pentobarbital, wobei sie einen 3-Kilo-Eimer herumreichen oder uns ein "Gibt es Fragen?" entgegenwerfen. Alles steht im Dienst der Angreifbarmachung, in eigener wie unserer Sache. Markus & Markus spielen mit offenen Karten, legen den Abend als Hommage an eine beeindruckende Frau an. Am Ende tanzen sie Margots Lieblingsballett "Giselle". Anrührend plump, Ballerinaschuhe über den Händen und damit Spitze tanzend. Im Video sehen wir dazu die Entschlafene auf einer Sterbepraxispritsche.

Mussten ihre beiden Todesverwalter aber ihr (anscheinend schmerzfreies) Hinscheiden ausstellen - bis hin zum späteren Verfrachten in einen Sarg und dessen Zuschrauben? Hätte es nicht genügt, davon zu erzählen? Von der Aufgeräumtheit Margots, selbst nach dem Aufdrehen der Infusion ("Gute Reise". "Ja. Und Euch viel Erfolg."). Das Zurschaustellen ist die Klimax dieses radikalen Theaterprojekts. Ist Aufklärung, nicht Voyeurismus. Das Festival aber hätte gut daran getan, vorab zu warnen, dass in "Ibsen: Gespenster" das Gespenst des Todes reale Gestalt annimmt.Mehrere Überlebende von damals erzählen in der Eingangssequenz von Milo Raus Dokutheaterstück "Hate Radio" - seine Uraufführung liegt fünf Jahre zurück - in eingespielten Videos, wie ihre Angehörigen vor ihren Augen massakriert wurden. Ihnen Beine oder Brüste abgeschnitten oder Lanzen in sie hineingestoßen oder bergeweise Leichen auf sie geworfen wurden, unter denen sie - selbst Kinder damals noch - sich verbargen und totstellten.

90 Minuten später spielt Rau die Überlebenden abermals in Großaufnahme ein. Einer fragt, wie diese sadistische Mordlust zu erklären ist und hat keine Antwort. "Wieso haben sie nicht nur effizient getötet?" Er ahnt nur: Die Geschichte der Genozide ging nicht 1994 in Ruanda zuende. Das Entsetzen, die Ratlosigkeit in den Blicken der bei Rau auftretenden Überlebenden zeigen: Das Grauen weicht nicht, wenn zur nächsten Tagesordnung geblasen wird.

Die Interviewprotokolle rahmen des Abends Kern im Zeichen von Raus Reenactment-Devise: Lassen wir die damalige Kommandozentrale der Barbarei, den Propagandasender RTLM in Kingali, auferstehen. Stellen wir das Damals nochmal nach: das Studio, das Sendeformat, die Parolen und Denunziationen der Moderatoren, den untergelegten Kongo-Sound. Vier Schauspieler setzt der Abend in einen Glaskasten und lässt sie eine typische RLTM-Morgensendung von April 1994 simulieren. Wie sich die Moderatoren gegenseitig in einen verbalen Tötungsrausch hineinreden und die nur als "Kakerlaken" bezeichnete Tutsi-Minderheit zum Abschuss freigeben. Es ist, als wolle die Kunst die Realität noch an Authentizität übertrumpfen. Mal ist das Hetz-Trio momenteweise selbst sprachlos ob seines rauschhaften Vernichtungswillens, dann wieder es amüsiert von der eigenen Macht oder tanzt zu "Rape me" von Nirvana umher.

All das ist von kristalliner Dokumentationskraft, führt aber in eine Art Absehbarkeitsfalle. Will es uns sagen, dass auch Genozide ermüdend sein können? Der Nachhall von "Hate Radio" zeigt: Das Konzept ging auf.

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