Vollbad im Gefühl

Saarbrücken · Genauso möchte man die Zeit der Deutschen Radio Philharmonie (DRP) mit ihrem (Noch-) Chefdirigenten Karel Mark Chichon in Erinnerung behalten – als großes Musikfest wie mit dieser glänzenden „Bohème“ am Freitagabend und gestern in der Saarbrücker Congresshalle.

 Maestro espressivo: Dirigent Karel Mark Chichon inmitten der Solisten. Foto: Oliver Dietze

Maestro espressivo: Dirigent Karel Mark Chichon inmitten der Solisten. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Mögen Sie Tiramisu? Na klar, was für ‘ne Frage? Dann wissen Sie aber auch: Ohne viel Zucker und mächtig Mascarpone geht‘s nicht, schmeckt das nicht. Exakt so verhält es sich mit Puccini. Puccini light, das kann man abhaken. Wer dessen "La Bohème" ansetzt, muss auch im Gefühl baden wollen, muss sich in der Fülle des Wohllauts verlieren, und man muss plötzlich selbst für sowas wie Oktavverdoppelungen brennen. Sonst ein Igittigitt für kultivierte Tonsetzer (okay im Pop, da macht man das mal), und dann einfach gerührt sein, wie Mimi und Rodolfo sich in der Pariser Künstlerbude anschmachten. Im Parallelklang ihrer Stimmen. Hach, schön!

Halten wir in diesem Zusammenhang also gleich mal fest: Karel Mark Chichon kann ein sehr hochkalorischer Dirigent sein. Was er am Freitagabend in der leider nicht ganz so vollen Congresshalle (vermutlich forderte die EM Tribut) serviert, ist Schwelgen in üppig blühenden Streicherfarben pur, kontrastiert mit feinen Soli und Unheil drohend tönendem Blech, das einen trotz des vorwiegend heiteren Künstlerlebens in der Männer-Wirtschaft von Rodolfo, Marcello, Schaunard (überzeugend: Enrico Maria Marabelli) und Colline (Rihards Macanovskis) stets ans bittere Ende Mimis mahnt.

Und lebenspraller als Chichon sein Orchester, die Deutsche Radio Philharmonie, im zweiten Bild in den Weihnachtszauber im Quartier Latin stürzt, ist sowas kaum denkbar. Dazu noch dieser Kinderchorjubel; die Chöre, mit denen das Saarländische Staatstheater diese vorbildliche Kooperation bereichert, sind übrigens bestens eingestimmt. Und genau dann, wenn die Bühne unter all den Musikern und Sängern ächzt, gut 150 sind es wohl, dann ist der von Wien bis zur Met gefragte Opernhexer Chichon ganz bei sich. Wenn alle sich auf ihn einlassen (müssen). Aber der Brite bleibt trotz Überschwang eine souverän ordnende Kraft, auch wenn er nicht immer verhindern kann (oder will), dass das Orchester die Sänger überdeckt. Doch er achtet sehr auf Durchhörbarkeit. Puccinis "Bohème" ist schließlich nicht hübsch arienweise portioniert, sondern in einem Schwung durchkomponiert. Da über knapp zwei Stunden den roten Faden zu halten, zeigt Chichons Klasse. Genau hier beweist auch die DRP ihre Brillanz: wie sie auf minimalste Rhythmusänderungen sogleich eingeht - famos.

Und ja, man hat für diese "Bohème" wirklich nicht zu viel versprochen: Sänger von Format nämlich. Ho-Yoon Chung tritt uns als kraftvoller und doch auch eleganter Rodolfo entgegen. Beweglich, leicht ist sein Tenor, voller Glanz. Auch wenn ihn ab und an ein Notengipfel, dezent hörbar, Mühe kostet. Grazia Doronzios Mimi hingegen ist von solcher Schönheit, dass die Grenze zum Überperfekten bisweilen nahe scheint. Über den Abend hinweg aber weiß sie ihren sich mühelos aufschwingenden Sopran besser und besser zur Geltung zu bringen; Seele weicht reinem Schönklang. Und am Ende hat die Italienerin ein so innig wie differenziertes Porträt dieser jungen Frau Mimi entworfen - zwischen Lebensgier und Todesahnung. Ein Meisterstück.

Doch es könnte sein, dass man das andere Paar; Musetta und Marcello, noch ein bisschen mehr ins Herz schließt. So herrlich überdreht wie die großartige Alessandra Marianelli diese selbstbewusste Musetta singt. Durch und durch modern, ihr glückt der überzeugendste Charakter. Wobei man nie vergessen darf, dass bei so einer konzertanten Aufführung kein Kostüm und keine Kulisse hilft. Allein die Musik muss sprechen. Auch Fabio Maria Capitanucci beherrscht diese Kunst, so traumwandlerisch sicher, so eins mit seiner Partie ist er. Und ein Bariton so agil wie ein Tenor, aber mit so viel Gefühlswucht; seinen Marcello möchte man zum Freund.

Was bliebe da jetzt noch zu sagen? Nun, "Wow" solle man ausrufen nach diesen Opernaufführungen, hoffte Karel Mark Chichon. Na dann: "Wow!!!"

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