Unternehmen schlagen Alarm Brexit wird für die Wirtschaft zum Alptraum

London/Berlin/Saarlouis · Drei Monate vor dem Austritt Großbritanniens aus der EU stellen immer mehr Unternehmen wegen der Unsicherheit Investitionen zurück.

 Ungewisse Stimmung auch an Weihnachten am Sitz der Premierministerin in Downing Street 10 in London.

Ungewisse Stimmung auch an Weihnachten am Sitz der Premierministerin in Downing Street 10 in London.

Foto: dpa/Tim Ireland

Drei Monate vor dem geplanten EU-Austritt der Briten herrscht große Unsicherheit in der Wirtschaft, wie es weitergeht. Die Chancen, dass Premierministerin Theresa May das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen durchs Parlament bringt, gelten als gering. Für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals ist das ein Alptraum. Die nicht gebannte Gefahr eines Brexits ohne Abkommen zwingt viele in der Produktion und im Handel dazu, Vorräte anzulegen und Notfallpläne zu erstellen. Das kostet Geld und bindet Kapazitäten. Auch deutsche Firmen sind betroffen.

Bosch hat eine Investition von 39 Millionen Euro (35 Millionen Pfund) für den Bau einer neuen britischen Regionalzentrale zurückgestellt. Im Oktober gaben 80 Prozent der britischen Unternehmen in einer großen CBI-Umfrage an, der Brexit habe einen negativen Effekt auf ihre Investitionsentscheidungen gehabt.

„Für viele Investitionen ist der Zug wahrscheinlich jetzt schon abgefahren“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London. „Gewisse Dinge, die ich unter Umständen woanders machen kann, in einem heute schon absehbar stabilen regulativen Umfeld, die mache ich jetzt woanders.“

Für den Fall eines ungeregelten Brexits rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) alleine für deutsche Unternehmen mit bis zu zehn Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen pro Jahr und mehr als 200 Millionen Euro an zusätzlichen Kosten nur durch diese Zollbürokratie. „Die eigentlichen Zölle könnten noch dazukommen: Allein für die deutschen Autoexporte drohen dann Mehrbelastungen von rund zwei Milliarden Euro im Jahr.“

Die Behörden im Vereinigten Königreich seien kaum darauf vorbereitet, ein Chaos in Dover zu verhindern, wenn Zollanmeldungen und -kontrollen nötig wären. „Just-in-Time-Produktions- und Lieferketten stehen auf dem Spiel“, warnt DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Die unklare Lage beim Brexit führe zu einer massiven Verunsicherung der Unternehmen – in einem derzeit ohnehin zunehmend instabilen Konjunkturumfeld. „Da hängen ganze Wertschöpfungsketten dran.“

Empfindliche Waren wie Lebensmittel und Medikamente könnten unterwegs unbrauchbar werden, fürchten Experten. Deswegen platzen die Lagerhallen, besonders für gekühlte und gefrorene Lebensmittel, aus allen Nähten. Alles sei ausgebucht, warnte der Chef des Branchenverbands Food and Drink Federation (FDF), Ian Wright. Schon jetzt schwer von dem Brexit-Gezerre betroffen sind auch die Autobauer. Einer Umfrage des britischen Branchenverbands SMMT zufolge haben bereits die Hälfte der Mitglieder durch die Unsicherheit Schaden genommen. Ein Drittel hat heimische Investitionen verschoben oder abgeblasen. Zehn Prozent gaben jeweils an, Kapazitäten ins Ausland verlagert oder die Zahl an Mitarbeitern reduziert zu haben. BMW kündigte bereits an, eine geplante Produktionspause in seinem Mini-Werk in Oxford auf die Zeit unmittelbar nach dem Austritt aus der Europäischen Union am 29. März zu verlegen. Jaguar Land Rover griff zu Maßnahmen wie Kurzarbeit und Jobstreichungen, um einen Rückgang der Nachfrage abzufedern. Auch für den Automobilproduzenten Ford in Saarlouis könnte der Brexit mit höheren Kosten, auch durch zusätzliche Zollformalitäten, zu großen Problemen führen, Großbritannien ist für den an der Saar hergestellten Focus der wichtigste Absatzmarkt.

Die Regierung gibt mittlerweile zu, dass der Brexit, egal in welcher Form, der britischen Wirtschaft schaden wird. Das National Institute of Economic and Social Research (NIESR) geht davon aus, dass Großbritan­niens wirtschaftliche Leistung im Jahr 2030 um vier Prozent geringer ausfallen wird als ohne Austritt. Doch das sei noch eine sehr vorsichtige Schätzung. Wenn man nur die Wirtschaft betrachte, zeige die Analyse deutlich, dass in der EU zu bleiben ein besseres Ergebnis für Großbritannien bringen würde, sagte vor einigen Wochen der britische Schatzkanzler Philip Hammond. Diese Erkenntnisse haben bisher nicht zu Folgen geführt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort