Steht das Bau-Sozialsystem vor dem Aus?

Saarbrücken/Erfurt · Die Sozialkasse der Bauwirtschaft steht vor einer Zerreißprobe. Wegen zweier Urteile des Bundesarbeitsgerichts drohen hohe Rückforderungen von vielen Firmen, die sich nicht zur Baubranche zählen.

 Dunkle Wolken über den Sozialkassen der Bauwirtschaft. Sie sind eine Einrichtung, die es sonst in keiner Branche gibt. Foto: Bockwoldt/dpa

Dunkle Wolken über den Sozialkassen der Bauwirtschaft. Sie sind eine Einrichtung, die es sonst in keiner Branche gibt. Foto: Bockwoldt/dpa

Foto: Bockwoldt/dpa

Zwei Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt sorgen derzeit in der Baubranche für helle Aufregung. "Das gesamte Sozialkassen-System der deutschen Bauwirtschaft steht vor der Existenzfrage", meint Michael Peter, Geschäftsführer des Wirtschaftsverbandes Holz und Kunststoff Saar.

Was ist passiert? Die Erfurter Richter haben vor wenigen Wochen einem wichtigen Tarifvertrag der Baubranche für zwei Zeiträume die Allgemeinverbindlichkeit abgesprochen. Dabei handelt es sich um den Verfahrenstarifvertrag für die Bauwirtschaft (VTV). Dieser sieht vor, dass die Sozialkassen der Baubranche (Soka-Bau, siehe Artikel unten) Beiträge von allen Unternehmen erheben dürfen, die unter den Geltungsbereich des VTV fallen, egal ob sie tarifgebunden sind oder nicht. Im VTV wird unter anderem definiert, wer zur Zahlung verpflichtet ist. Die jetzt aufgehobenen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) umfassen die Jahre 2008 und 2010 (Az.: 10 ABR 33/15) sowie 2014 (Az.: 10 ABR 48/15). Über die AVE für weitere Jahre will das BAG im Dezember entscheiden.

Was steckt dahinter? Das Bundesarbeitsministerium durfte bis Ende 2014 einen Tarifvertrag als verbindlich für alle Firmen erklären, wenn mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer einer Branche an diesen Vertrag gebunden sind. Diese Quote wurde beim VTV allerdings nicht erreicht, kritisieren die Arbeitsrichter. Sie werfen dem Ministerium vor, dass es hier geschlampt hat.

Doch die AVE ist eine der tragenden Säulen des Soka-Bau-Systems. Durch sie galt der VTV automatisch für alle Betriebe, auch wenn sie keinem tariffähigen Verband angehören und sie im klassischen Sinne auch keine Bauunternehmen sind. Daher wird den Bau-Sozialkassen seit längerem vorgeworfen, dass sie tausende von Firmen unrechtmäßig zu Zahlungen zwingt. Die Allgemeinverbindlichkeit sei für die Soka-Bau ein Freibrief fürs Abzocken, so die Kritik. Beispielsweise bei Firmen, die Schränke aufstellen. Wenn dort nur Kleider aufgehängt werden, ist es unproblematisch. Sobald die Schränke allerdings zum Raumteiler werden, hält die Soka-Bau die Hand auf. Ähnliche Abgrenzungsprobleme haben auch Elektriker, Herd- und Ofensetzer, Maler und Lackierer, Klempner sowie Heizungs- und Sanitärinstallateure . Sie müssten eigentlich nicht zahlen. Sobald sie aber bis zu einem bestimmten Grad Bauarbeiten ausführen, geraten sie jedoch ins Visier der Sozialkassen . Es gibt Unternehmer, die den Kassen vorwerfen, sie wegen hoher Forderungen in die Pleite getrieben zu haben. Dazu zählt sich Thomas S (Name bekannt), der nach eigenen Angaben Carports, Saunen und Gewächshäuser aufstellte. Einen von der Soka-Bau geforderte sechsstellige Summe habe er nicht aufbringen können. Daher habe er Insolvenz beantragen müssen. Denn die Beiträge an die Kassen, die ausschließlich die Arbeitgeber aufbringen müssen, sind happig. Bei gewerblichen Arbeitnehmern belaufen sie sich auf 20,4 Prozent der Bruttolohnsumme. Bei Angestellten gilt ein fester Beitrag.

Weil das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlichkeit in zwei Fällen nun für unwirksam erklärt hat, sind viele Betriebe sauer, die in diesen Jahren Beiträge zahlen mussten, obwohl sie sich nicht zur Baubranche zählen und keiner Tarifbindung unterliegen. "Die Soka-Bau wird sich für diesen Zeitraum mit Sicherheit zahllosen Rückforderungs-Ansprüchen von Nicht-Mitgliedsbetrieben der Bauverbände erwehren müssen, sofern diese Ansprüche noch nicht verjährt sind", meint Michael Peter.

Die Soka-Bau finanziert mit diesen Mitteln Leistungen, die die Besonderheiten in der Bauwirtschaft berücksichtigen. Zum einen wird damit eine Ausbildungsumlage erhoben, die alle Betriebe zahlen müssen, egal ob sie Lehrlinge einstellen oder nicht. Davon werden unter anderem die überbetrieblichen Ausbildungszentren der Branche mitfinanziert - auch das der saarländischen Bauwirtschaft in Saarbrücken-Schafbrücke. Zum zweiten werden Urlaubsansprüche der Mitarbeiter ausgeglichen, da die Beschäftigten der Baufirmen häufiger den Arbeitsplatz wechseln als in anderen Branchen. Ohne diese Regelung würde nach Angaben der Soka-Bau rund ein Drittel der Beschäftigten keinen vollen Urlaubsanspruch erwerben. Leistung Nummer drei ist die überbetriebliche Altersvorsorge, die Tarifrente Bau. Da es in der Branche häufiger zu witterungsbedingten Arbeitsausfällen kommt, wirke sich dies auch auf den Rentenanspruch aus. Die Rentenbeihilfe soll diese Versorgungslücke schließen.

Daher verteidigt Claus Weyers, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der saarländischen Bauwirtschaft (AGV Bau Saar), auch das System der Soka-Bau. "Für die Arbeitnehmer gleicht es die sozialen Risiken ihrer witterungsbedingten Tätigkeit aus", sagt er. Daher würde auch das meiste Geld, das durch die Beiträge erhoben wird, wieder zurückfließen. Für die Firmen, die sich der Soka-Bau entziehen wollen, zeigt er wenig Verständnis. Durch Liberalisierung im Handwerksbereich hätten viele Firmen ihre Tätigkeits-Spek trum ausgeweitet und würden heute auch reine Bauleistungen anbieten. Das gelte vor allem für tarifungebundene Unternehmen. "Bei diesen Betrieben tragen allein die Arbeitnehmer die witterungsbedingten Nachteile ihrer Tätigkeit", erläutert er. Die Soka-Bau selbst gibt sich wegen der beiden Urteile des Bundesarbeitsgerichts schmallippig. "Wir warten zunächst die schriftliche Urteilbegründung ab und werden uns dann äußern", sagte ein Sprecher.

Allerdings gilt die 50-Prozent-Reglung als Voraussetzung für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen seit 2015 nicht mehr. Im neuen Tarifautonomie-Stärkungsgesetz wurde diese Quote gestrichen. Daher kann die Zahlungsverpflichtung seit 2015 nur noch schwer angefochten werden.

Für Verbandsgeschäftsführer Michael Peter ist das das beste Argument, neue Mitglieder für seine Organisation zu werben. "Wer bei uns eintritt, ist vor dem Zugriff der Soka-Bau sicher", sagt er. Denn sein Verband hat die IG Metall als Tarifpartner und nicht die Baugewerkschaft IG BAU.


Die Sozialkassen sichern fast 700 000 Bauarbeiter ab


Die Sozialkassen der Bauwirtschaft (Soka-Bau) mit Sitz in Wiesbaden sind eine Einrichtung der Bauwirtschaft, die bereits 1949 gegründet wurden. Sie hat zum Ziel, einen sozialen Ausgleich für Besonderheiten der Bauindustrie und des Bauhandwerks herzustellen (siehe Artikel oben). Geregelt ist das in mehreren Tarifverträgen, die zwischen den Spitzenverbänden der Bauwirtschaft (Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, HDB, und Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, ZBD) sowie der Gewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) ausgehandelt wurden.

Knapp 697 000 Beschäftigte und fast 35 400 Auszubildende sind nach eigenen Angaben bei der Soka-Bau gemeldet. Im Saarland sind es rund 8900 Mitarbeiter und mehr als 560 Lehrlinge . Im vergangenen Jahr hat die Sozialkasse insgesamt 2,4 Milliarden Euro an Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgezahlt. 1,95 Milliarden Euro flossen in den Urlaubsausgleich und mehr als 300 Millionen Euro in die übertriebliche Ausbildung.

Zudem beziehen mehr als 373 000 Senioren Rentenbeihilfe. Im Schnitt beliefen sich die Auszahlungen während der gesamten Rentenzeit auf mehr 19 000 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort