„Kristallinisch-perfekte Kindheit“

Saarbrücken · SZ-Mitarbeiter Hans Bünte führte 1988 im Auftrag des ZDF Gespräche mit Yehudi Menuhin für die damalige ZDF-Fernsehreihe „Zeugen des Jahrhunderts“. Die Gespräche in Menuhins Londoner Haus erschienen später unter dem Titel „Wunderkind und Weltgewissen“ auch in Buchform. Aus Anlass des 100. Geburtstages des großen Geigers am 22. April erinnert sich Bünte an die Begegnung mit Menuhin.

 Menuhin mit Bünte im Jahre 1988 in seinem Londoner Haus. Foto: ZDF/Archiv Bünte

Menuhin mit Bünte im Jahre 1988 in seinem Londoner Haus. Foto: ZDF/Archiv Bünte

Foto: ZDF/Archiv Bünte

Es gibt Märchen, die sind so schön, dass man sie immer wieder hören möchte. Dazu gehört das Märchen von dem Jungen, der Bach und Mozart schöner spielte als die Erwachsenen. Der als Zehnjähriger in San Francisco das Violinkonzert von Tschaikowsky spielte - vor 11 000 Zuhörern.

Hatte er Lampenfieber? "Nein. Ich wollte nur schön spielen, besonders für eine junge Dame in der ersten Reihe, in die ich verliebt war." Mit elf das Beethovenkonzert in New York, mit zwölf in Berlin an einem Abend Konzerte von Bach, Beethoven und Brahms. Märchenhaft aber auch, dass dieses Kind mittelloser Russland-Emigranten eines Tages zum Baron Menuhin of Stoke d'Abernon erhoben wurde.

Als ich für unser Fernseh-Interview an seinem viktorianischen Haus am Londoner Chester Square klingelte, öffnete Lady Menuhin persönlich und begrüßte mich auf Deutsch. Der Hausherr selber wirkte kleiner als auf dem Podium, war überraschend eloquent, liebenswürdig, heiter. Offenbar faszinierte ihn der Titel der ZDF-Reihe: "Zeugen des Jahrhunderts". Ungerührt sah er zu, wie Kameraleute und Tontechniker schwere Kabel über die edlen Teppiche zogen, Scheinwerfer um die prachtvollen Möbel bugsierten. Menuhins Studio im Dachgeschoss: ein Flügel mit Widmungsfotos von Bartók bis Sibelius, von Pandit Nehru bis Helmut Schmidt. Eine Wand gefüllt mit Paganini-Stichen und -Faksimiles. Ein Regal mit den weinroten His Master's Voice-Alben aus der Anfangszeit. Ehrfürchtiger Schauer, als er im Keller die Tresortür öffnet, hinter der seine unschätzbar wertvollen Geigen und Bögen lagerten, und sein erstes "gutes" Instrument heraussucht - eine Grancino von 1680, die er als Achtjähriger bekam.

Er spricht von einer "kristallinisch perfekten Kindheit". Schule? Er hat nie eine besucht; Eltern und Hauslehrer vermittelten das Nötigste. Zeitunglesen? Nein, aber der Vater schnitt für ihn jeden Tag einige Artikel heraus. Wunderkind-Drill? Keine Spur: "Zum Beispiel 1935 die erste Welttournee durch Amerika, Australien, Neuseeland und Südafrika. Das war ein heiteres, gutes Leben. Jeden Tag um elf Uhr spielten wir Tennis oder fütterten Schwäne im Park; nach dem Essen eine kleine Siesta, dann jeden Abend Konzert." Und wann übte er? "Morgens so zwei, drei Stunden, ab fünf dann wieder."

"Ich glaube, als Definition könnte man sagen: Der Mensch ist Wahnsinn."

Menuhin nahm sich drei Tage Zeit für unsere Gespräche. Er berichtete von utopischen Flugzeugen, die er als Kind konstruierte, und wie ihm Indiens Ministerpräsident Pandit Nehru den Kopfstand beibrachte. Wie er durch Heine, Goethe und Hölderlin Deutsch lernte. Er grübelte über seine unglückliche erste Ehe. Er beschrieb lachend, wie Hollywoods Versuche, ihn als Paganini vor die Kamera zu stellen, scheiterten und Stewart Granger die Rolle übernehmen musste. Und wie in Paris während einer Geigenstunde bei Georges Enescu plötzlich Maurice Ravel hereinstürmte, um mit Enescu eine neue Komposition durchzuspielen. Einmal kam Lady Menuhin ins Zimmer: "Ich möchte doch mal wissen, was mein Mann da alles erzählt. Mit mir spricht er nie so viel . . ."

Ich erzählte ihm, dass ich 1946 als Schuljunge sein erstes Berliner Nachkriegs-Konzert erlebte. Wie er nach der Pause ohne Geige aufs Podium kam, aber mit einem Zettel in der Hand. "Ja, ja!" fiel er begeistert ein, "die Juden hatten mir vorgeworfen: Du sagst, hier sind nur noch zehn Häuser stehen geblieben - wir sagen, das sind zehn zu viel! Aber ich habe gesagt: ,Ich stehe hier als Jude!' Und es war merkwürdig: Die Stadt lag in Trümmern, war besetzt von den Siegern, und doch war es irgendwie Berlin. Es gab diesen Willen, diesen Humor, oft Galgenhumor."

"Meine Frau hat gesagt: Du musst jetzt auch nach Israel gehen. Da ließ Menachem Begin, der eine Terrorgruppe leitete, mir ausrichten: ,Wenn Du kommst, wirst Du erschossen.' Ich bin trotzdem nach Palästina gegangen, und nach zwei Tagen war ich aller Lieblingskind. Aber was erleben wir jetzt im Nahen Osten? Ich glaube, als Definition könnte man sagen: Der Mensch ist Wahnsinn."

Es wäre unaufrichtig gewesen, wenn ich nicht auch seine geigerische Krise etwa vom 30. Lebensjahr an berührt hätte, als seine Auftritte immer quälender von dem Versuch gezeichnet waren, die unbewusste Genialität des Kindes ins Erwachsenenalter hinüberzuretten. Menuhin ging spontan darauf ein und hatte eine Erklärung parat: "Ja, während des Krieges habe ich ständig für die Soldaten gespielt, aber nicht mehr geübt. Da kam die Strafe." Er habe dann neu angefangen, mit Üben, Yoga, Diät, "so dass ich heute . . .", (er zögerte), ". . . wieder . . .". Er sprach den Satz nicht zuende. Und mehr zu fragen, kam mir nicht zu.

Als Schlusswort wählte er ein Lieblingsgedicht aus Goethes Westöstlichem Diwan', nämlich "Fünf Dinge bringen fünfe nicht hervor." Dann ließ er das Buch sinken und strahlte wie ein Lausejunge, dem ein guter Streich gelungen ist.

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Auf einen BlickYehudi Menuhin, Baron Menuhin of Stoke d'Abernon, wurde am 22. April 1916 in New York City geboren. Menuhin wuchs in San Francisco auf. Seine Eltern jüdischen Glaubens, Moshe und Marutha, Nachfahren chassidischer Rabbiner, stammten aus Gomel in Weißrussland. Kurz nach der Ankunft änderte der Vater seinen Familiennamen von Mnuchin in Menuhin. Den Vornamen Yehudi des Sohnes, auf deutsch "Jude", hatte die Mutter aus Trotz gegen die antisemitische Umgebung gewählt. Seine Karriere als Violinsolist führte Menuhin um die ganze Welt. 1963 gründete er eine eigene Violinschule in London. Neben seiner Konzerttätigkeit und späteren Arbeit als Dirigent engagierte er sich auch für die Bedürftigen der Welt. Da ihm auch die Förderung junger, talentierter Künstler am Herzen lag, verband er beides 1977 mit der Gründung seiner gemeinnützigen Organisation, der Live Music Now in England. Am 12. März 1999 starb Menuhin in Berlin. bü

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