Koksen und Kotzen im Akkord

Saarbrücken · Vom Provinz-Öko zum Popliteraten, vom Popstar-Literaten zum Drogensüchtigen. Benjamin von Stuckrad-Barre arbeitet im großartig erzählten Buch „Panikherz“, das gestern erschienen ist, seinen Absturz und seine Sucht auf.

 Autor Benjamin von Stuckrad-Barre. Foto: Julia Zimmermann

Autor Benjamin von Stuckrad-Barre. Foto: Julia Zimmermann

Foto: Julia Zimmermann

In der niedersächsischen Kleinstadt Rotenburg an der Wümme ist die Welt noch in Ordnung. Es gibt morgens einen Bibelvers auf den Weg und sonntags nach dem Gottesdienst einen Ausflug. Die Kinder tragen Kleidung aus zweiter oder dritter Hand, Coca-Cola und Nutella sind tabu. Es wird nur klassische Musik gehört und Obdachlosen, Afrika und der Umwelt geholfen, wann und wo es nur geht.

Im Schoß einer protestantischen Pastorenfamilie mit Öko-Siegel in den 1970er und 80er Jahren aufzuwachsen, schürt den Neid auf die Spießer mit ihren Süßigkeiten, Markenklamotten und Pauschalurlauben. Die Mutter hat das Unheil früh vorausgesehen: "Du denkst ja wirklich nur an Äußerlichkeiten, alles ist immer nur Oberfläche, das haben wir dir doch so nicht beigebracht", schimpft sie ihren Sohn Benjamin von Stuckrad-Barre.

Den zieht es in die Welt hinaus, um das Leben in vollen Zügen zu inhalieren. Glamour. Geld. Mode. Pop. Drogen. Frauen. Muttis kritisch beäugter Junge macht Karriere als Journalist, Schriftsteller und Moderator - taz, Rolling Stone, Harald Schmidt Show, FAZ, MTV. Bestseller, Lesetourneen, Groupies. Aus dem Popliteraten wird der Popstar-Literat. Der Absturz, Teil des Selbstversuchs, lässt nicht lange auf sich warten, Drogen pflastern seinen Weg.

Was mit ihm seinerzeit passiert ist, hat Benjamin von Stuckrad-Barre nun auf 600 Seiten im Buch "Panikherz" aufgeschrieben. Die Spuren einer Selbstzerstörung verfolgt der mittlerweile 42-Jährige unerbittlich und erzählt als selbsternannter Aufklärer in eigener Sache die Geschichte eines Lebens im Rauschzustand. Denn nach der Selbstsucht kommt die Magersucht, die Alkoholsucht, die Kokainsucht. Kotzen und koksen als Heavy Rotation. Das Experiment Popstar gerät außer Kontrolle. Therapien, Kliniken, falsche Freunde; der "Bruder im Geiste" Udo Lindenberg und der leibliche Bruder ziehen ihn schließlich aus dem Dreck.

"Panikherz" ist die nachgereichte Eigenanamnese eines suchtkranken Patienten, der die ausführliche Diagnose gleich mitliefert. Es geht dabei stets um Anerkennung und Aufmerksamkeit. Mit beinahe manischer Akribie zerlegt er sein Leben in Einzelteile, durchleuchtet sie und setzt dann alles wieder zusammen im Bemühen, die beste Fassung der realen Ereignisse zu erstellen. Er tritt als großartiger, origineller Erzähler auf, der die Leser hineinzieht in diese Leidensgeschichte, selbst wenn er sich absichtsvoll in detaillierten, anstrengenden Beschreibungen des stupiden Junkie-Alltags verliert. "Panikherz" erhebt den Überlebenskampf zur Kunstform: mit kluger Beobachtungsgabe und klarer Wirkungsabsicht.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 21,99 Euro.

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