Kleines Kinowunder „Toni Erdmann“
Cannes · Lange fand deutsches Kino beim Festival in Cannes gar nicht mehr statt. Nun gilt der einzige deutsche Film im Wettbewerb als ein Favorit: Maren Ades witzige Vater-Tochter-Geschichte „Toni Erdmann“.
So viel, so laut und von Herzen gelacht wurde bei einer Wettbewerbsvorführung in Cannes schon lange nicht mehr. Schon gar nicht bei einem deutschen Film. Schließlich war Deutschland 2008 zuletzt mit Wim Wenders' "Palermo Shooting" in der Konkurrenz um die Goldene Palme - und der sorgte damals eher für schlechte Laune. Bei Maren Ades "Toni Erdmann" lief nun alles anders. Der immerhin fast drei Stunden lange Film der Berliner Filmemacherin ("Alle Anderen") über eine entfremdete Vater-Tochter-Beziehung eroberte das Festival und den frühen Favoritenstatus im Sturm. "Toni Erdmann" führt seitdem mit Höchstwertungen in den Kritikerspiegeln. Wenn es nach der französischen Tageszeitung "Le Monde" ginge, wäre der Wettbewerb sogar bereits entschieden.
Vater Winfried und Tochter Ines werden hier - ideal besetzt - von Sandra Hüller und dem Burgtheater-Schauspieler Peter Simonischek verkörpert: Sie ist erfolgreiche Unternehmensberaterin, auch bei ihrem aktuellen Projekt in Bukarest immer angestrengt, für die Karriere perfekt zu funktionieren. Er hingegen ist ein Musiklehrer und Scherzkeks, der sein Witzgebiss wie einst bei Diether Krebs in "Sketchup" immer für den nächsten Einsatz griffbereit hat. Als er Ines spontan in Rumänien besucht, ist klar, dass sie sich eigentlich nur wenig zu sagen haben. Doch statt nach seinem schnellen Abschied wirklich abzureisen und das Unausgesprochene weiter unausgesprochen zu lassen, bleibt er in Bukarest - mit schiefer Perücke und falschen Zähnen in der Rolle des Toni Erdmann, der Ines' Business-Alltag aufmischt.
"Ich wollte schon lange etwas über Familie machen - über die Rollen, die jeder spielt und den Wunsch daraus auszubrechen, um von Null anzufangen", sagte Ade in Cannes, die wie in ihren beiden anderen Filmen "Alle Anderen" und "Der Wald vor lauter Bäumen" die ernsten, schmerzhaften und komischen Szenen mit perfektem Timing ausbalanciert. So einfach wie präzise und fein austariert ist das inszeniert und greift dabei ganz beiläufig unterschiedlichste Themen auf: "Toni Erdmann" erzählt von den Schwierigkeiten in Eltern-Kind-Beziehungen und greift Generationsfragen auf. Es geht ums Rütteln am starren Alltagskorsett, um Frauenrollen in der Geschäftswelt und ganz universell darum, ob man sein Leben auch wirklich lebt.
Wer ist der beste Filmhund?
Auch wenn Regisseur Jim Jarmusch, Held des unabhängigen Kinos, im Palmen-Rennen mit seinem Beitrag "Paterson" wohl keine Chance hat: die Palm Dog, eine Auszeichnung für den besten Filmhund, dürfte dem Werk des Cannes-Veteranen sicher sein. Marvin ist eine grunzende Bulldogge mit ausgeprägter Persönlichkeit; eigentlich steht "Star Wars"-Bösewicht Adam Driver als Busfahrer in New Jersey im Mittelpunkt, der auch Gedichte schreibt. Eine Woche lang, Tag für Tag, folgt man ihm durch Variationen gleicher Situationen bei der Arbeit, in der Beziehung, abends nach dem Gassigehen in der Lieblingsbar. Ein reizender, amüsanter Film über Talent, Poesie und deren Präsenz im Alltag.
Derweil gab es im Wettbewerb bislang kaum Filme, die sich an den Problemen und Konflikten der Welt abarbeiten. Ken Loach immerhin greift in "I, Daniel Blake" auf typische Weise die Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten britischer Bürokratie auf. Und "Loving" erzählt von einem Paar (stark: Ruth Negga und Joel Edgerton), das in den 1960ern das Verbot gemischter Ehen in den USA zu Fall brachte. Die Gefahr, diese wahre Begebenheit auszuschlachten für ein pathetisches Gerichtsdrama mit großem Triumph, ist groß. Doch US-Regisseur Jeff Nichols, der auch auf der jüngsten Berlinale mit "Midnight Special" vertreten war, erzählt ganz geradlinig und konzentriert die Geschichte der Lovings und entfaltet so in aller Ruhe seine Emotionen, seine Kraft.
Außer Konkurrenz lieferte das Programm am Pfingstwochenende vor allem Stimmungsaufheller mit Star-Aufgebot. "The Nice Guys", ein Buddy-Movie im coolen 70er-Jahre-Retrodesign, zeigt Ryan Gosling und einen Bud-Spencer-haften Russell Crowe als Privatermittler, die einem Fall um Mord und vermisste Mädchen nachgehen. Das Timing der vielen beiläufigen Gags und Trotteleien stimmt. Die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern ebenso, die auch in der Pressekonferenz in Cannes ihren Spaß am Rumalbern zeigten.
Reinen Märchen-Eskapismus bietet Steven Spielberg. Nach einigen historischen Stoffen wie "Bridge of Spies" verschlägt es ihn mit seiner Roald-Dahl-Adaption "The BFG" in eine fantastischere Filmwelt. Darin schließen ein Waisenmädchen und ein freundlicher, Träume fangender, vegetarischer Riese (Mark Rylance) Freundschaft und wollen zusammen mit Hilfe der Queen die anderen, menschenfressenden Riesen aus dem Riesenland vertreiben. "Je schlimmer die Welt wird, desto mehr brauchen wir die Magie, denn sie gibt uns Hoffnung", sagte der Regisseur in Cannes. Was das Niveau der Verzauberung und die Effekte anbelangt, kann das unterhaltsame Märchen "The BFG" allerdings nicht mit seinen früheren Leinwandwunderwerken Schritt halten. Wie zumindest kleinere Wunder funktioniere, hatte Maren Ade ohnehin schon vorher gezeigt.