Faszinierende Material-Experimente

Wuppertal · Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal widmet dem britischen Bildhauer Tony Cragg (Jahrgang 1949) die erste umfassende Retrospektive. Gezeigt werden rund 120 Werke aus allen Schaffensphasen.

 Seine Wandplastik „Menschenmenge“ fertigte Tony Cragg 1984 aus Plastikabfällen. Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016/Rocco Ricci

Seine Wandplastik „Menschenmenge“ fertigte Tony Cragg 1984 aus Plastikabfällen. Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016/Rocco Ricci

Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2016/Rocco Ricci

"Parts of the World": Dieser Ausstellungstitel kann doppeldeutig verstanden werden. Zum einen verarbeiten die Kunstwerke mal mehr, mal weniger Konkretes aus der banalen Umwelt. Zum anderen sind sie selber als Skulpturen im öffentlichen Raum zu Bestandteilen dieser Welt geworden. Ihr Urheber, der vielfach ausgezeichnete Brite Tony Cragg, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern weltweit. Dieser "größte Erfinder neuer plastischer Formen", als den ihn ein Kurator vor einigen Jahren eingestuft hat, wird nun mit der bislang größten Ausstellung gewürdigt. In Craggs Wahlheimat Wuppertal, wo der 1949 in Liverpool Geborene seit 1977 lebt, hat man das gesamte Von der Heydt-Museum leergeräumt, um 120 Skulpturen den gebührenden Platz einräumen zu können. Auch Zeichnungen, Druckgrafiken und Fotografien sind zu sehen.

Wer Tony Craggs Arbeiten der letzten Jahre, die im öffentlichen Raum ihre großen Auftritte haben, kennt, wird seine Werke aus der Anfangszeit nur mit Mühe dazu in Beziehung setzen können. So gesehen ist der erste Saal der Schau sicherlich der überraschendste, finden sich hier doch deutliche Anklänge an Minimal Art und Arte Povera, Konzeptkunst und Land Art: ein junger Künstler auf der Suche nach dem entscheidenden Bruch mit der Bildhauertradition. Als Cragg die Bedeutung des Materials erkannte, war die Lösung gefunden. "Ich bin ein Materialist", erklärt der Künstler und betont damit seine naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt, in der Material alles sei.

Neugierig auf den Werkstoff

Craggs Boden- und Wand-Figurationen, etwa eine "Menschenmenge" (1984), die er aus nebeneinander gelegten Plastikabfällen zusammenstellte, bildeten einen ersten Schwerpunkt des Werkes. Ausgangspunkt einer Arbeit ist für den Bildhauer nicht eine konkrete Idee, sondern die Lust und die Neugier auf die Beschäftigung mit dem Werkstoff, das "Abenteuer mit dem Material". Und da gibt es für Cragg keine Grenzen. Aus Plastikrohrelementen formt er etwas, das anmutet wie ein Wurm (oder eine Wurstkette), fensterlose, bekritzelte Holzhäuschen werden auf und unter einen Tisch platziert. Cragg stapelt Glasflaschen übereinander und klebt tausende kleine Spielwürfel zu einem gewaltigen, organisch erscheinenden Gebilde zusammen, das den wenig poetischen Titel "Secretions" (Auswürfe) trägt. Beunruhigend wirkt die fast surreale Plastik "Wildlife", deren Gipsformationen an Hände und Füße erinnern.

Aus der Verwendung und Weiterverarbeitung von gefundenen Gegenständen und der Auseinandersetzung mit den Materialien entwuchs der Wunsch, das Zusammengefügte oder Aneinandergereihte sozusagen mit einer Haut zu überziehen, etwas ganz Neues, ganz Abstraktes entstehen zu lassen. Tony Craggs bis heute mit Erfolg fortgesetzte Großskulptur-Serien "Early Forms" und "Rational Beings" verdanken sich dieser Idee. Die "Metamorphose von Gefäßformen", wie es der Museumsdirektor Dr. Gerhard Finckh ausdrückt, das Umwandeln von Bekanntem in Unbekanntes, garantiert dem Betrachter faszinierende Konfrontationen. Immer glaubt man, etwas Konkretes erkennen zu können, überdimensionale Muscheln, Wirbelsäulen, sogar Profile mit markanter Nase und Kinn. Die Arbeiten changieren virtuos zwischen Wesen- und Dinghaftem.

Die ausgeprägte Experimentierlust Tony Craggs mag den Betrachter irritieren. Das gilt übrigens auch für die Materialästhetik. Ist das aus Kunststoff? Nein, aus Bronze. Dann ist das auch Bronze? Nein, Holz. Aber dieses Befragen der Arbeiten leistet man angesichts des verblüffenden wie kühnen Formenvokabulars, das in den neuesten Arbeiten auch das Monumentale nicht scheut, nur allzu bereitwillig.

Die im letzten Jahr entstandenen, spiralförmig-zittrigen Säulen, die "Points of View", ragen zwar stolze 4,50 Meter in die Höhe, scheinen aber alles andere als standfest zu sein. Ganz davon abgesehen, dass die Skulpturen im öffentlichen Raum stärkere Wirkung entfalten würden, will der Bildhauer auch mit diesen "Standpunkten" eine neue Sicht auf die Welt herausfordern.

Bis 14. August. Di-So: 11-18 Uhr; Do 11-20 Uhr.

Noch mehr Kunst von Tony Cragg gibt es im 2008 vom Künstler selbst eröffneten Skulpturenpark "Waldfrieden" in Wuppertal. Dort werden derzeit auch Gipsskulpturen von Henry Moore ausgestellt (bis 9. Oktober).

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