Experte verteidigt Verfahren zur Arzneizulassung

Etwa jedes dritte neue Medikament, das in Deutschland auf den Markt kommt, hat nach Erkenntnissen der gesetzlichen Krankenkassen keinen Zusatznutzen für Patienten. SZ-Korrespondent Stefan Vetter sprach darüber mit dem Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem. Der Wissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen leitet auch die AMNOG-Schiedsstelle. Sie tritt in Aktion, wenn sich Kassen und Pharmahersteller nicht auf einen Preis für eine neue Arznei einigen können.

Verbände der Pharmabranche sehen in der Kritik der Kassen nur Polemik. Wie akut ist das Problem mit neuen, aber kaum innovativen Arzneien?

Wasem: Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sind oft umstritten. Aber wenn ein Medikament keinen Zusatznutzen hat, kann es trotzdem für die Versorgung wichtig sein.

Wie das?

Wasem: Bei vielen Erkrankungen ist eine Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten durch neue Arzneimittel sinnvoll, zum Beispiel weil manche Patienten auf die bisherigen Arzneimittel nicht reagieren.

Nun sind neue Medikamente in der Regel teurer als alte. Verdienen sich die Hersteller eine goldene Nase?

Wasem: Medikamente, die keinen Zusatznutzen gegenüber den bisherigen Arzneimitteln haben, dürfen nach einem Jahr auch nicht mehr kosten als die alten Arzneimittel, mit denen die neuen Medikamente verglichen wurden. Im ersten Jahr wiederum sind die verkauften Mengen bei den meisten Medikamenten noch nicht sehr hoch, weil sich die Ärzte in der Regel erst relativ langsam umstellen.

Andere Länder prüfen, ob bestimmte Arzneien überhaupt auf den nationalen Markt kommen ("Vierte Hürde"). In Deutschland gibt es das so nicht. Auch wird bei uns erst im Nachhinein ermittelt, ob ein Zusatznutzen vorhanden ist. Ein Webfehler im System?

Wasem: Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen führt das deutsche System aber dann auch dazu, dass die Patienten deutlich früher von den neuen Arzneimitteln profitieren als in den Ländern, in denen es eine vierte Hürde gibt. Ich persönlich finde, die Vorteile des deutschen Systems überwiegen.

Wie muss man sich die Arbeit der Schiedsstelle vorstellen?

Wasem: In mehr als 90 Prozent der Fälle einigen sich die Krankenkassen mit dem jeweiligen Pharmaunternehmen auf den Preis. Nur in weniger als jedem zehnten Fall muss daher die Schiedsstelle ran. Dies sind oft Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen haben und daher nicht teurer sein dürfen als die Vergleichstherapie. Bei den Arzneimitteln mit Zusatznutzen geht es darum, zu bewerten, wie viel wir bereit sind, dafür auszugeben. Dies ist schwierig, weil eine gesellschaftliche Debatte über die Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt bei uns erst in den Anfängen steckt.

Und wie sieht in aller Regel ein Kompromiss aus?

Wasem: Die Schiedsstelle bemüht sich zunächst, eine Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist. Oft gelingt das aber nicht. Dann muss die Schiedsstelle eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen. Da beide Seiten, also Krankenkassen und Pharmaunternehmen, in der Schiedsstelle je zwei Mitglieder haben, kommt es dann auf die Stimmen der drei Unparteiischen an. Die Entscheidung ist dann für das Pharmaunternehmen wie für die Krankenkassen verbindlich.

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