Interview Marcel Fratzscher DIW-Chef rechnet mit längerer konjunktureller Durststrecke

Berlin · Die aktuelle Wachstumsprognose der Bundesregierung von drei Prozent ist nach Ansicht von Marcel Fratzscher in diesem Jahr kaum noch zu halten.

 DIW-Präsident Marcel Fratzscher warnt vor Folgen einer lang andauernden Pandemie.

DIW-Präsident Marcel Fratzscher warnt vor Folgen einer lang andauernden Pandemie.

Foto: dpa/Daniel Naupold

Die Corona-Krise hat im vergangenen Jahr tiefe Löcher in die deutsche Exportbilanz gerissen. Die Warenausfuhren brachen gegenüber 2019 um 9,3 Prozent auf 1204,7 Milliarden Euro ein, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte. Es war der stärkste Rückgang seit der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2009 mit einem Minus von damals 18,4 Prozent. Auch wenn sich der Außenhandel zum Jahresende hin stabilisiert hat, bedeutet der massive Einbruch nach Einschätzung des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, große Unwägbarkeiten für die weitere Konjunkturentwicklung.

Herr Fratzscher, 9,3 Prozent weniger Ausfuhren im letzten Jahr. Was bedeutet das ganz konkret für den Wohlstand im Land?

FRATZSCHER Das bedeutet praktisch, dass deutsche Hersteller zum Beispiel deutlich weniger Autos oder Maschinen ins Ausland verkaufen konnten, und die Beschäftigten dies durch Kurzarbeit zu spüren bekamen. Für unseren Wohlstand ist das aber weniger dramatisch, als es der prozentuale Rückgang vermuten lässt.

Wie erklärt sich das?

FRATZSCHER Der größte Teil deutscher Exporte besteht aus Importen. Das heißt, für die Herstellung etwa einer Maschine braucht es viele Vorprodukte aus dem Ausland. Die Importe sind aber ähnlich stark eingebrochen wie die Exporte. Und das wiederum bedeutet, dass uns letztlich nicht 9,3 Prozent an Wirtschaftsleistung entgangen sind, sondern viel weniger. Auch hat Deutschland trotzdem immer noch deutlich mehr exportiert als importiert. Damit wurde immer noch ein stattlicher Mehrwert geschaffen.

In der Finanzkrise 2009 war der Exporteinbruch fast doppelt so stark wie 2020. Also ist aktuell tatsächlich alles nur halb so schlimm?

FRATZSCHER Nein, auch das wäre ein Trugschluss. Die Sorge jetzt ist, dass die Krise deutlich länger anhält als die Finanzkrise. Im Kern dauerte sie damals nur einige Monate. Danach ging es wieder nachhaltig bergauf.  Das ist jetzt völlig anders. Wir hatten ein sehr schwaches zweites Quartal im letzten Jahr, das dritte war gut, und im vierten stagnierte die deutsche Wirtschaft. Und noch etwas kommt schlechterdings hinzu...

Und das wäre?

FRATZSCHER Dass Europa von der Pandemie wirtschaftlich und gesundheitlich weltweit am stärksten betroffen ist. Aber 60 Prozent der deutschen Exporte gehen nun mal nach Europa. Insgesamt machen die Exporte 40 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung aus. Und wir sollten nicht glauben, dass wir uns mit Ausfuhren nach China, wo es gut läuft, aus dieser Krise quasi herausexportieren könnten. Wenn  Europa nicht wieder auf einen grünen Zweig kommt, wird Deutschland auch kein spürbares Wachstum haben.

Das heißt, die Wachstumsprognose der  Bundesregierung in Höhe von drei Prozent für dieses Jahr wackelt?

FRATZSCHER Ja, diese Prognose wackelt ganz kräftig. Dieser Erwartung liegt ja zugrunde, dass die zweite Corona-Welle schnell gestoppt werden kann, dass keine dritte Welle kommt, und dass es einen Impfstoff gibt, der sehr schnell ausgerollt wird. Diese Annahmen werden immer unwahrscheinlicher. Und damit wachsen auch die konjunkturellen Unsicherheiten. Von plus fünf Prozent bis minus fünf Prozent halte ich inzwischen alles für möglich. Allein im ersten Quartal 2021 rechnet unserer Institut mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mehr als drei Prozent. Allein das müsste man erst einmal wieder aufholen.

Und der private Konsum ist auch kein Wachstumstreiber mehr?

FRATZSCHER Das ist weniger das Problem. Die größte Schwäche besteht darin, dass sich die Unternehmen mit Investitionen stark zurückhalten. Weil sie durch Corona verschuldet und verunsichert sind. Schon deshalb brauchen wir eine Lockerungsperspektive, allerdings mit der Maßgabe, dass eine dritte Infektionswelle unbedingt verhindert werden muss. Andernfalls ginge Deutschland wirtschaftlich harten Zeiten entgegen.

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