Die Sehnsucht nach dem Echten

Saarbrücken · Der Kunsthistoriker Christian Saehrendt versucht sich an einer Gegenwartsdiagnose und untersucht, durchaus anregend, unsere verzweifelte Jagd nach Authentizität.

Die Welt müsse romantisiert werden, forderte einst Novalis - und erklärte in seinen "Fragmenten" wie: nämlich durch "qualit(ative) Potenzierung", der Identifizierung eines "niedre(n) Selbst . . . mit einem bessern Selbst", wodurch "dem Bekannten die Würde des Unbekannten" oder dem "Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn" gegeben werde. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint Novalis‘ geheimnisvolle "Operation" allgegenwärtig, ob wir Selfies mittels entsprechender App in 1970er-Polaroids mit Gelbstichpatina verwandeln oder uns zuhause im "Shabby Chic" einrichten mit Möbeln im künstlichen "Vintage-Look".

Für Christian Saehrendt steckt dahinter eine "Sehnsucht nach Geschichtlichkeit", eine Reaktion auf eine Welt der glatten technischen Oberflächen und glänzenden Displays. Das weit verbreitete Bedürfnis nach Dingen mit Geschichte, mag diese letztlich auch nur eine Illusion sein, ist nach Ansicht des Kunsthistorikers nur einer von vielen Gegentrends, die unsere Gegenwart bestimmen und die Saehrendt auf eine neo-romantische "Sehnsucht nach dem Echten" zurückführt. In seiner Gegenwartsdiagnose bringt er diese verzweifelte Jagd nach Authentizität mit Merkmalen des modernen Lebens in Verbindung. Wer sich im Alltag ständig kontrollieren oder Masken tragen müsse, beginne irgendwann vom "authentischen Ich" zu träumen; wer die Welt nur noch medial erfahre, suche spätestens im Urlaub das "wahre" Leben, ob auf dem Jakobsweg, als Helfer für NGOs oder auf Neuseelandtrips zu "Lord of the Rings"-Drehorten.

Kapitelweise untersucht Saehrendt die wichtigsten dieser "Ausbruchsversuche" in Kunst, Unterhaltung und Tourismus kenntnisreich und mit einem kühlen, desillusionierenden Blick. Die Liebe etwa werde heute immer häufiger mittels ausgewählter Suchkriterien online gefunden, aber dann paradoxerweise trotzdem als "schicksalhaft" erlebt. Das Bedürfnis nach dem Echten führe zu regelrechten Hochzeitsexzessen, Inszenierungen, die vor allem das Paar selbst von der "wahren Liebe" überzeugen sollen. "Ich war Regisseurin und Hauptdarstellerin in einem und sah auf jedem Foto perfekt aus", zitiert Saehrendt eine junge Schweizerin, die ihren "schönsten Tag im Leben" einem 15-seitigen Drehbuch folgen ließ - und längst wieder geschieden ist.

Dass von unserer unstillbaren Sehnsucht nach dem Echten ganze Industriezweige leben, ist nicht neu. Dennoch liest man Saehrendts kenntnisreiche Tour d'Horizon mit Gewinn, geschmälert freilich von seiner Neigung zu Pauschalurteilen. Auch vermag sein Plädoyer für eine "neue Wurschtigkeit" mit dem Ziel einer gründlichen Des-Romantisierung der Welt nicht zu überzeugen. Am Interessantesten wird dieser kulturkritische Langessay, wenn er sich ungewöhnlichen Aspekten zuwendet, etwa den neuen Formen im Umgang mit Niederlagen. So erblüht heute in einer Welt der Erfolgsanbetung ein regelrechter "Kult des Scheiterns": von der Glorifizierung gescheiterter politischer Utopien ("DDR-Nostalgie") über die neue Modediagnose Burn-out bis zu den aus den USA stammenden "Fuck up Nights": An solchen Abenden wird das eigene Scheitern nicht mehr schamhaft verschwiegen, sondern Unternehmer bekennen sich vor Publikum zu Misserfolgen, verkaufen sie als notwendige Etappe zum Erfolg.

Kein neues Phänomen ist dagegen, dass gerade junge Menschen den totalen Ausbruch aus einem als unauthentisch empfundenen Leben in Ideologien oder Gewalt suchen. Im stärksten Kapitel seines Buches zieht Saehrendt frappierende Parallelen zwischen Ernst Jünger, der sich 1913 als 18-Jähriger bei der Fremdenlegion verpflichtete, und heutigen westeuropäischen Jugendlichen, die sich für den IS anwerben lassen.

Christian Saehrendt: Gefühlige Zeiten. Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten. DuMont, 256 S., 19,99 €

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