Der leise Beobachter

Budapest · Die literarische Welt trauert um den ungarischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Er starb gestern im Alter von 86 Jahren nach langer Krankheit in Budapest. Der Überlebende des Holocaust genoss weltweit hohe Wertschätzung. Bundestagspräsident Norbert Lammert und Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) würdigten Kertesz beide gestern als authentische Stimme der Opfer der Schoah.

Schon im Januar 2004 war es dunkel geworden um Imre Kertész. Zwei Jahre zuvor hatte er den Literaturnobelpreis für sein Gesamtwerk erhalten, nun aber stand es schlecht um seine Gesundheit, Diagnose Parkinson. In "Letzte Einkehr", seinen Tagebüchern von 2001 bis 2009, hielt er fest: "Wenn man mich im Augenblick fragte, was ich mir vom neuen Jahr wünsche, würde ich ohne zögern antworten, schnell und schmerzlos zu sterben."

Er hatte noch zwölf Jahre, nun aber ist er an seiner langen Krankheit gestorben. Er wurde 86 Jahre alt. 1929 war er als Kind jüdischer Eltern in Budapest geboren, als 14-Jähriger war er ins KZ Auschwitz deportiert worden, später nach Buchenwald. Kertész hat immer wieder, aber stets zurückhaltend, von diesen Jahren in Todesnähe gesprochen. In allen seinen Äußerungen war die Erschütterung zu spüren, dass gerade die Deutschen, ein von ihm so verehrtes Kulturvolk, in die Barbarei verfallen waren.

Er empfand es wohl als eine Art Wiedergutmachungsversuch, dass er oft eingeladen wurde, um in Deutschland zu lesen und zu arbeiten. Von 2002 bis 2012 lebte er weitgehend in Berlin, in der Meinekestraße im Bezirk Charlottenburg feilte er an seinen Texten, dort schrieb er auch die Chronik "Letzte Einkehr", die er "ein radikal persönliches Buch" nannte. "Notiere alles", steht darin. "Tagebuch zu führen ist eine metaphysische Pflicht."

Kertész' bekanntestes Werk ist der "Roman eines Schicksallosen", in dem er sein Leben reflektierte. 1975 wurde das Buch in Ungarn veröffentlicht, aber der Autor war nicht wohlgelitten bei der Kommunistischen Partei. Erst Mitte der 80er Jahre erlangte das Buch - auch durch Übersetzungen in mehrere Sprachen - literarische Anerkennung. Kertész hatte nach dem Krieg erst bei einer Zeitung gearbeitet, 1951 wurde er entlassen und zum zweijährigen Militärdienst eingezogen. Er war keiner, der sich blenden ließ. Im "Galeerentagebuch" (1993) beschrieb er seine 30 Jahre währende geistige Isolation im sozialistischen Ungarn, eine zutiefst erschütternde Dokumentation.

Kertész verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen aus dem Deutschen, Musicals und Theaterstücken. Alle seine Bücher sind autobiografisch durchwirkt. International hatte er Erfolg mit den Romanen "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" (1992), "Fiasko" (1999) und "Liquidation" (2003). Als ihm 2002 die höchste Schriftstellerehre zuteil wurde, der Nobelpreis, da sprach er von der "Glückskatastrophe". Später beklagte er sich über die materiellen Folgen, die er zwar persönlich zu schätzen wusste, die aber im Umgang mit anderen Menschen, vor allem Verwandten, ihm äußerst lästig waren. Und weil seine Rolle ihn "ersticken ließ an der falschen Ehrfurcht, der Liebe, dem Hass", wie er formulierte.

Er rettete sich wieder ins intensive Schreiben. "Der Zauber der Fremdheit", heißt es in "Letzte Einkehr". "In letzter Zeit liebe ich mein Leben, und ich bedaure, dass es schon seinem Ende entgegengeht." In beeindruckender Ehrlichkeit schildert er seine Ehe, die allmählich versagende Sexualität und den Horror des Altwerdens. "Mein Leben: Rendezvous mit dem Tod."

Kollege Peter Esterházy schrieb über Kertész: "Er hat in der ungarischen Sprache, in der Weltliteratur eine Arbeit verrichtet, die kein anderer vollbracht hat, ja, auch nicht hätte vollbringen können." Es ist die Hinterlassenschaft eines mit viel Glück Überlebenden. Als Imre Kertész 2012 aus Berlin in sein Heimatland zurückkehrte und sich als bedeutender Intellektueller des Landes kritisch über die Orbán-Regierung äußerte, wurde er weitgehend kaltgestellt. Das kannte er.

Der Rowohlt Verlag hat angekündigt, das letzte Buch von Imre Kertész im Herbst herauszugeben. Es trägt den Titel "Der Betrachter - Aufzeichnungen 1991-2001".

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