Der Business-Anzug als Zwangsjacke
Saarbrücken · In jedem smarten Büro-Anzug steckt ein Mensch mit wilden, unterdrückten Gefühlen. So ist das zumindest in Urs Dietrichs Choreografie „Ein neues Stück“.
Bei Urs Dietrich sehen die Tänzer aus wie Banker. Sie tragen blütenweiße Hemden und graue Anzüge, die sich nur in Nuancen unterscheiden. Manchmal zupfen sie dran, kratzen sich im Nacken oder fahren sich mit den Händen wie erschöpft übers Gesicht. Doch im nächsten Moment bricht etwas heraus, die Alltags- und Verlegenheitsgesten explodieren zu den wildesten Bewegungen, Hände zittern, Körperteile verselbständigen sich.
Unter jedem smarten Business-Zwangsanzug steckt auch (nur) ein Mensch, in dem die Gefühle toben, zeigt uns der Schweizer Choreograf Dietrich, und in jedem Menschen steckt auch ein Tier. "Ein neues Stück" nennt der einstige Folkwang-Schüler und -Lehrer und Leiter des Bremer Tanztheaters seine neueste Kreation, die er als Artist in Residence beim Theater Trier für die Compagnie Susanne Linke schuf. Einer Austausch-Vereinbarung mit dem Saarländischen Staatstheater verdankt es sich, das man sie am Dienstag, kurz nach der Trierer Premiere, als Gastspiel in der Saarbrücker Alten Feuerwache sehen konnte. Eine schöne Initiative, deren Fortsetzung man sich nach diesem Abend nur wünschen kann.
Die zwölf Trierer Tänzerinnen und Tänzer erweisen sich als formstarke und harmonische Truppe voller Individuen. Dietrich lässt sie sich umlauern, umgarnen, rangeln, sich bekämpfen und abstoßen und dann wieder Nähe suchen. Mal als Objekt der Begierde, als Kumpel oder als Rivalen. Auf leerer Bühne, nur mit einem Betonblock als Rückzugsort und Armeedecken als Accessoires bleiben die Szenen einerseits abstrakt, befördern so aber umso mehr individuelle Projektionen eigener Erfahrung.
Auch zum Schmunzeln gibt es Gelegenheit. Dietrichs Studie menschlichen Verhaltens ist sehr genau beobachtet, bis in die kleinsten Gesten sehr fein ausgearbeitet und doch nie platt-eindeutig, sondern voller Ambivalenzen. Das schafft bis zum Schluss knisternde Spannung; alles gut unterstützt durch Norbert Möslangs Sound-Kulisse, durch die man sich mal in einem Dschungel oder Gewitter, mal in einem Umspannwerk wähnt.