Das große Abschieds-Feuerwerk

Saarbrücken · Kaum je in den vergangenen elf Jahren stellte die Saarbrücker Intendantin Dagmar Schlingmann einen vitaleren Spielplan vor als jetzt, da sie 2017 geht. Ungewöhnlich viele Spezialformate und spartenübergreifende Projekte prägen das Bild. Schlingmann selbst verabschiedet sich mit einem „Othello“.

 Das Saarbrücker Traumpaar trennt sich: Ramon John, der wohl markanteste Tänzer der Saarbrücker Company, wechselt nach Wiesbaden, die Ausnahme-Tänzerin Liliana Barros macht ihre erste große Choreografie. Zu sehen sind sie hier in einer Szene aus „Walking mad“ von Johan Inger. Foto: Stöß

Das Saarbrücker Traumpaar trennt sich: Ramon John, der wohl markanteste Tänzer der Saarbrücker Company, wechselt nach Wiesbaden, die Ausnahme-Tänzerin Liliana Barros macht ihre erste große Choreografie. Zu sehen sind sie hier in einer Szene aus „Walking mad“ von Johan Inger. Foto: Stöß

Foto: Stöß

Wenn der Spielplan die Speisekarte eines Theaters ist, dann schreiben wir jetzt mal "Explosion der Aromen" über die letzte, elfte Spielzeit 2016/17 der nach Braunschweig wechselnden Intendantin Dagmar Schlingmann. Einen gesunden Appetit sollten wir denn auch mitbringen für all die Diskurs-Formate und Spezial-Angebote, die ab September auf uns einprasseln. Von wegen Routine beim Abstauben der Klassiker-Vitrinen, die Zeichen stehen auf Zeitgeist-Erforschung durch viel diskutierte Stücke ("La Revolution # 1 - Wir schaffen das schon"/Joel Pommerat) und integrationspolitische Neu-Hinterfragung von vermeintlich altbekannten Stoffen ("Andorra"/Max Frisch). Bereits die Titel vieler Programmpunkte verraten viel vom frohgemut-experimentellen Grundtenor, der die Schauspiel-Saison bestimmt: "Quo vadis, bellum" (Rechercheprojekt mit freien Gruppen zur Zukunft von Kriegen) oder "Aus der Kutte springen" (Schwarmprojekt im öffentlichen Raum zum Reformationsjubiläum). Den Vogel schießt mal wieder die Sparte 4 ab. Unter dem Motto "Kinder, wie die Zeit vergeht" veranstaltet Sparte 4-Chef Christoph Diem dreitägige "Weihespiele" zum zehnjährigen Jubiläum. Oder er zeigt "King Kong # weißefrau" als Reflex auf die Kölner Silvesternacht 2015/2016 und huldigt David Bowie, indem er eine Opernregisseurin auf die Pop-Ikone ansetzt. Doch insbesondere der sechswöchige Herbst-Start der Sparte 4 mit etwa 30 Veranstaltungen macht staunen, denn es ist ein später, aber umso radikalerer Durchstoß zu den derzeit in Metropolen-Häusern wie etwa dem Berliner Maxim-Gorki-Theater gepflegten progressiven Formaten. "Was werden wir werden?" fragt die Sparte 4 die "etwas leiseren" Experten, wie Diem gestern bei der Spielplan-Präsentation darlegte. Er will der derzeit "lauten, hysterischen Debatte" um Heimat, Kunst, Migration und Sex ein "etwas genaueres Nachdenken" entgegenstemmen. Erwarten darf man laut Diem Erfrischenderes als die Talkshow-Standard-Tänze. Sparte 4 rediviva? Es scheint, als wolle Chef Diem, der vor geraumer Zeit in der SZ über Erschlaffungserscheinungen der Spielstätte sprach, beweisen, dass doch noch genügend Innovationsenergie aktivierbar ist.

Die Zeit reif für eigenwillige Akzente sah offensichtlich auch Tanzcompany-Chef Stijn Celis. Er legte ein Programm vor, in dem sich seine persönliche Weiterentwicklung - er vertanzt Bach und bringt Strawinskys "Pulcinella" - wunderbar verzahnt mit der der Company. Statt weiter im Opernfach zu bleiben, das er mit "Platée" diese Saison erstmals betrat, inszeniert er nun, ebenfalls erstmals, ein Musical, die "West Side Story". Das ist ein höchst ungewöhnlicher Schritt für einen Ballettchef ins vermeintliche Unterhaltungsgenre, zugleich ein Aufbrechen der Sparten-Grenze zur Oper.

Letztere trägt in der kommenden Spielzeit noch ein letztes Mal die Handschrift von Operndirektorin Brigitte Heusinger und wird nach deren Schilderungen nahezu perfekt. So habe sie beispielsweise die Idealbesetzung für Verdis "Simon Boccanegra" (Olafur Sigurdarson, Hiroshi Matsui, Yitian Luan). Auch konnte sie alle ihre Regie-Wunschkandidaten verpflichten, etwa den in Saarbrücken entdeckten und mittlerweile hoch gehandelten Ben Baur für Janáceks "Katja Kabanowa" oder Johannes Erath, der an Tophäusern wie der Staatsoper München oder der Dresdener Semperoper gefragt ist. Enthusiastisch äußerte sich Heusinger zum Saarbrücker Niveau: "Ich werde nie mehr ein solches Sängerensemble haben und hatte es noch nie." Dass der Mode-Star Christian Lacroix an einem solchen Heusinger-Top-Haus als Kostümbildner arbeiten wird ("Boccanegra"), klang dann nur noch folgerichtig.

Denn auch Generalmusikdirektor Nicholas Milton, der ein erfreulich munteres und dichtes Konzertprogramm mit Abstechern in die Alte Schmelz nach St. Ingbert und einer Art Christian-Lindberg-Festival vorstellte, überschlug sich förmlich im Lob über das Orchester, das "Unglaubliches" leiste. Freude, schöner Götterfunken? Milton hat's leicht, er kann, wie Celis, noch eine Saison länger bleiben (die SZ berichtete). Loslassen muss demhingegen Chefdramaturgin Ursula Thinnes, die vor zehn Jahren mit Schlingmann ins Saarland kam, ihr und Diem jetzt jedoch nicht nach Braunschweig folgt. Sie wechselt ans Schauspiel Frankfurt.

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Auf einen BlickVeränderungen im Ensemble: Dagmar Schlingmann hat nach eigenem Bekunden noch keine Entscheidung darüber gefällt, welche Mitarbeiter sie nach Braunschweig mitnehmen wird. Andreas Anke hat ein Engagement in Schwerin angenommen, Pit-Jan Lößer geht in Elternzeit. Das Opernensemble verlässt nur Teresa Andrasi. Im Ballett gibt es viele Abgänge, unter anderem verlassen Pascal Séraline, Laura Halm, Takayuki Shiraishi und Ramon John das SST. ce

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