600 Jahre europäische Unterwerfungspolitik

Saarbrücken · Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard legt mit „Die Unterwerfung der Welt“ eine sechs Jahrhunderte überspannende Untersuchung der europäischen Kolonialisationsgeschichte vor – ein überwältigendes Standardwerk.

Clio, die Muse der Geschichtsschreibung, platzt aus allen Nähten. Jedenfalls wenn es um die großen Erzählungen der Geschichte geht. Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" ist so eine. Gleichfalls bei C.H. Beck folgt jetzt "Die Unterwerfung der Welt". Diese Globalgeschichte der europäischen Expansion im Zeitraum von 1415 bis 2015 ist von dem Freiburger Professor für Neuere Geschichte Wolfgang Reinhard aus seiner vor 30 Jahren bei Kohlhammer erschienenen vierbändigen Geschichte der europäischen Kolonisation komprimiert, aktualisiert und neuen Diskursschwerpunkten angepasst worden.

Entstanden ist ein ebenso unhandliches wie überwältigend stoffreiches einbändiges Meisterstück, das als Standardwerk für die konfliktreiche Geschichte der europäischen Versuche angesehen werden muss, alle Kontinente zu unterwerfen. Kaum ein europäisches Land hat sich nicht an daran beteiligt. Die meisten Vorstöße erfolgten über die Ozeane. Reinhard rechnet aber auch die kontinentale Expansion Russlands in Europa und vor allem nach Asien zu diesem raumgreifenden Erweiterungsprozess.

Am Beginn dieser Meistererzählung stehen die vom Mittelmeer und der iberischen Halbinsel ausgehenden Übersee-Expeditionen der Portugiesen, Spanier und Italiener. Notwendig hierzu waren neuartige Schiffskonstruktionen und Navigationssysteme. Zunächst waren die Küsten Westafrikas, bald auch die Ostseite des Kontinents, der Mittlere Osten und Indien Ziel der Vorstöße. Dem Leser erschließt sich ein abenteuerliches Zeitalter von Entdeckungen. Reinhard macht ihn zum Zeugen der Einrichtung von Handelsstützpunkten und von christlichen Missionierungsversuchen, die meist gegen die muslimische Welt als Hauptgegner gerichtet waren.

Das änderte sich mit der vom Autor kritisch erzählten Entdeckung und völkermordenden Eroberung Amerikas. Immer wieder rückt Reinhard die ökonomischen Zwänge und Wünsche, Erfolge und Misserfolge in den Vordergrund seiner auch in diesen Passagen packenden Darstellung. Die europäischen Mächte gerieten im Handel mit den anderen Kontinenten in konfliktreiche Konkurrenz, die nachvollziehbar in den Zusammenhang zu den innereuropäischen Machtkämpfen gestellt werden. Zu den iberischen "Unterwerfern" gesellten sich im Laufe der Zeit niederländische, englische und französische Eroberer, Händler und Missionare. Die Konkurrenz verschärfte sich um den lukrativen transatlantischen Sklavenhandel. Der Osten Asiens blieb ein besonders schwieriges Terrain: China erschlossen die Europäer nur an Küsten, Japan schottete sich bald ganz von den dort besonders undiplomatisch auftretenden europäischen Eindringlingen ab.

Das 19. Jahrhundert führt einerseits zur Beendigung der iberischen Kolonialherrschaft in Latein- und Mittelamerika und andererseits zur endgültigen Aufteilung Afrikas unter die europäischen Kolonialmächte. Dieser Imperialismus nahm unterschiedliche Gestalt im britischen oder im französischen Kolonialreich an. Reinhard beschreibt für alle Epochen die administrativen Besonderheiten der Ausübung von Kolonialherrschaft durch die einzelnen Mächte, die unterschiedliche Beteiligung von staatlichen und privaten Ressourcen an der ökonomischen Erschließung und Ausbeutung der Kolonien. In einem umfangreichen Kapitel wendet er sich der Dekolonisation Asiens und Afrikas und dem in den gleichen Zusammenhang gestellten Zerfall der Sowjetunion zu. Am Ende bleiben die anachronistisch anmutenden Konstruktionen im französischen und britischen Kolonialreich, die einzelne, meist wenig bedeutende Territorien vor allem in der Karibik und in Ozeanien zu Bestandteilen des jeweiligen Mutterlandes erklären. Ein eigenes Kapitel widmet er der Situation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Er stellt sie in den Zusammenhang der europäischen Unterwerfung der Welt.

In früheren Darstellungen der Unterwerfungsgeschichte ist allein das Handeln der Kolonialherren als historisch relevant angesehen worden. Reinhards große Erzählung stellt einen Übergang dar zu einer Historiografie, in der die Kolonisierten nicht mehr nur passive Objekte der Geschichte und Opfer der Kolonialherren sind. Aber er sagt auch "Vielleicht hat jetzt erst, weil die europäische Expansion endgültig vergangen ist, die Stunde der Historiker geschlagen." Ihre Aufgabe wird nicht leicht sein, denn das Handeln der Kolonisierten, "die jetzt erst als Subjekte der Geschichte wahrgenommen werden, läuft häufig subtiler ab und ist quellenmäßig schwerer zu fassen als dasjenige ihrer Herren." All das führt Reinhard uns in einem wahren Meisterwerk vor Augen.

Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 - 2015 C.H.Beck, 1648 S. mit 122 Abb. und Karten, 58 €.

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