Zu lange Verfahren – Verdächtige kommen frei
Berlin · Zu viel Beweismaterial, zu wenig Personal: Weil die Justiz bei der Aufklärung von Straftaten zu langsam ist, kommen mutmaßliche Straftäter aus der Untersuchungshaft frei. Und zwar nicht nur in Einzelfällen.
Die deutsche Justiz scheitert immer wieder daran, mutmaßlichen Kriminellen fristgerecht den Prozess zu machen. Verdächtige müssen wegen zu langsamer Arbeit von Ermittlungsbehörden und Gerichten auf freien Fuß gesetzt werden. Nachdem jüngst zwei - inzwischen rechtskräftig verurteilte - Totschläger in Hamburg ein erstes Urteil gegen sie anfochten, wurden sie wegen überlanger Verfahrensdauer auf freien Fuß gesetzt. Solche Fälle sind in Deutschland keine Seltenheit.
Die häufigsten Gründe: Einerseits dauern die Ermittlungen zu lange, bis es überhaupt zu einem Prozess kommt. Andererseits können sich die Prozesse durch die Menge an Beweismaterial zu sehr in die Länge ziehen. Durch Auswertung von DNA, Überwachungskameras oder Handys werden auch mehr Sachverständige benötigt, zusätzliche Prozesstage müssen angesetzt werden. "Das ist für den Ermittlungserfolg ein Segen, aber für die zeitliche Belastung der Hauptverhandlungen ein Fluch", sagt der Strafrechtsexperte des Deutschen Richterbunds (DRB), Stefan Caspari.
Eine Ursache für derartige Verzögerungen sieht der DRB in dem nach seiner Einschätzung eklatanten Personalmangel bei Richtern und Staatsanwälten. "Die schlichte Arbeitsüberlastung ermöglicht es manchmal nicht, Fälle fristgerecht abzuschließen", sagt Caspari. Schon vor Jahren warnte der DRB, dass 4000 fehlende Stellen zu Engpässen führen können. "Es haben sicherlich Nachbesserungen stattgefunden, was die Personalausstattung angeht. Jetzt sind es aber noch immer 2000 Stellen."
Für die Anordnung einer Untersuchungshaft gelten zeitliche Beschränkungen, Betroffene gelten juristisch bis zu ihrer Verurteilung als unschuldig. Wenn mutmaßliche Straftäter vor ihrem Prozess länger hinter Gittern bleiben sollen, muss das ein Richter in regelmäßigen Abständen anordnen und neu begründen. Häufig fehle wegen der Überlastung dazu die Zeit, so dass Fristen verstreichen und in Einzelfällen eine Freilassung nötig werde, sagt Caspari.
Von 2003 bis 2014 sind allein in Baden-Württemberg nach Angaben des Justizministeriums aus diesem Grund insgesamt 82 Menschen freigelassen worden. In Nordrhein-Westfalen wurden nach Angaben des Justizministeriums im vergangenen Jahr vier Fälle bekannt, in diesem Jahr waren es bislang drei. Jeweils ein mutmaßlicher Betrüger, Steuerhinterzieher und Stalker kamen dadurch frei.
15 Haft- oder Unterbringungsbefehle wurden in Bayern zwischen Januar 2014 und März dieses Jahres wegen Verletzung des sogenannten Beschleunigungsgebots aufgehoben. In Berlin wurden 2014 drei Haftbefehle aufgehoben. Zuletzt hatte das Kammergericht im Frühjahr verfügt, dass zwei wegen Drogenhandels angeklagte Männer freikamen, weil sich ihr Prozess über Monate schleppte und zusätzlich noch einer der Richter krank wurde.
In den anderen Bundesländern wurden in den vergangenen zwei Jahren nur wenige Fälle registriert. Die Arbeitsbelastung ist dennoch hoch: Im Bundesdurchschnitt dauert nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes ein Strafprozess bei einem Landgericht 6,6 Monate.
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HintergrundIm Saarland mussten in den vergangenen fünf Jahren fünf Mal mutmaßliche Verbrecher aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil für die Ermittlungen benötigte Sachverständigen-Gutachten auf sich warten ließen. Nach Angaben des Justizministeriums ereigneten sich zwei dieser Fälle im laufenden Jahr, drei weitere bereits 2010. In allen Fällen wurde Anklage erhoben. Laut Ministerium gab es keine Probleme infolge der Entlassungen aus der Untersuchungshaft - die Angeklagten erschienen auch ohne Haft vor Gericht. Es handele sich um eine ganze Bandbreite an Delikten, ein Mord sei nicht darunter. lrs