„Wir sind alles andere als eine farbenblinde Gesellschaft“

Die offenkundig rassistische Attacke auf eine Kirche in Charleston hat nicht nur die USA erschüttert. SZ-Korrespondent Frank Herrmann sprach mit dem Historiker Robert Chase. Er lehrt Geschichte an der Stony Brook University bei New York. Von 2011 bis 2013 forschte er am College Charleston.

Was ist das Charleston-Massaker, bei dem neun Afroamerikaner ermordet wurden - ein Akt des Terrorismus oder ein Hassverbrechen?

Chase: Es wäre ein großer Fehler, von einem Verbrechen aus Hass allein zu sprechen. Die Leute denken dann, es handelt sich bei dem Täter um einen paranoiden Einzelgänger. Dylann Roof dagegen greift weit in die Geschichte zurück, um seine Tat zu begründen, wie man in dem Manifest lesen kann, das er ins Internet gestellt hat. Er identifiziert sich mit den verlorenen Bürgerkriegsschlachten der Südstaaten, mit der Sehnsucht nach dem alten, aristokratischen, angeblich besseren Süden. Wir kennen jetzt Dutzende Fotos, die Roof an historischen Stätten zeigen, darunter Sullivan's Island, wo einmal 60 Prozent aller für Nordamerika bestimmten Sklaven amerikanischen Boden betraten. Er hat offenbar ein feines, wenn auch völlig pervertiertes Gespür für Geschichte.

Schwer zu verstehen, dass solche Gedankenmodelle auch 150 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs noch Bedeutung haben.

Chase: Solche Ideologien kommen immer dann zum Vorschein, wenn Afroamerikaner ihre Stimme erheben. Derzeit protestieren sie unter dem Motto "Schwarze Leben zählen" gegen Polizeigewalt . In den Fünfziger- und Sechzigerjahren erwachte der Ku Klux Klan aus seinem Dämmerschlaf, in den er seit den 1920er Jahren gefallen war, nachdem das Oberste Gericht gemeinsamen Schulklassen von Schwarzen und Weißen den Weg gebahnt hatte. Damals brannten im Süden mehr als 300 afroamerikanische Kirchen. Höhepunkt war 1963 der Sprengstoffanschlag auf ein Gotteshaus in Birmingham, Alabama, bei dem vier Mädchen getötet wurden.

Ist das Massaker von Charleston eine Wiederholung dieser Geschichte?

Chase: Ich glaube, wir sind mitten in einer neuen Bürgerrechtsbewegung, auf die Roof auf pervertierte Art reagiert: mit roher Gewalt, so wie das schon immer geschah.

Eine Bewegung gegen Polizeigewalt ?

Chase: Es geht um mehr. Für weiße Amerikaner sind Waffen Symbole der Freiheit. Für schwarze Amerikaner sind sie Symbole für Mord, sei es 1968 an Martin Luther King, sei es 2012, als der Teenager Trayvon Martin von dem Nachbarschaftswächter George Zimmerman erschossen wurde. Noch immer wirkt das Erbe des Lynchmords nach, als weiße Bürger entschieden, dass jemand sterben musste, wohl wissend, dass ihnen von Staats wegen nichts drohte. Dass Zimmerman nicht verurteilt wurde, könnte Roof bestärkt haben.

Ist das der lange Schatten der Sklaverei, von dem Nobelpreisträger Paul Krugman spricht?

Chase: Das ist richtig. Ich gehe sogar weiter: Das ist der lange Schatten, den der Rassismus in den USA bis heute wirft. Wir sind alles andere als eine farbenblinde Gesellschaft. Zwar haben wir Barack Obama zum Präsidenten gewählt, aber wir stellen - bei einem Zwanzigstel der Weltbevölkerung - ein Viertel aller Gefängnisinsassen der Welt. Über die Hälfte der Häftlinge sind Afroamerikaner oder Latinos.

Wovor fürchten sich Menschen wie Dylann Roof?

Chase: Historisch gesehen gab es immer drei Begründungen für Lynchmorde an Schwarzen. Die Angst, dass sich die weiße und die schwarze Rasse vermischen; die Furcht, dass Afroamerikaner das Land übernehmen könnten, und schließlich die Schlussfolgerung aus den beiden Punkten: dass man Afroamerikaner auslöschen muss.

Dennoch scheint es voranzugehen, wie die Wahl Obamas beweist.

Chase: Ja, Martin Luther King hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass Amerika 2008 einen schwarzen Präsidenten wählen würde. Aber das beseitigt ja nicht all die tief verwurzelten Probleme. Während der jüngsten Rezession kletterte die Arbeitslosigkeit unter weißen Amerikanern auf acht bis neun Prozent, unter schwarzen auf 18 bis 20 Prozent. Die Wohlstandskluft, bei der die Rasse natürlich auch eine Rolle spielt. Die vielen afroamerikanischen Männer im Gefängnis. An alledem hat sich nichts geändert.

Manchmal scheint es, als tue sich der Durchschnittsamerikaner schwer mit der Debatte über Rassenbeziehungen, als verstecke er sich gerne hinter Allgemeinplätzen.

Chase: Unsere Mythologie verschleiert unsere Geschichte ebenso wie unsere aktuelle Realität. Dem Mythos nach sind wir eine Ausnahme-Nation, eine Nation ohne Europas Klassenkonflikte, eine Nation, in der jeder Indus triekapitän oder Präsident werden kann. In Wahrheit haben wir die größte Kluft zwischen Arm und Reich, und dabei spielt auch die Rasse eine Rolle. Natürlich werden Probleme offen angesprochen, denken Sie nur an die Bürgerrechtsbewegung. Aber viele Amerikaner wollen weiter an die These von der Ausnahme-Nation glauben. Dazu gehört auch zu sagen, wir sind farbenblind, wir haben kein Rassismusproblem. Charleston hat wieder einmal deutlich gemacht, dass das nicht stimmt.

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