Wie in der Saarbrücker Ostkurve Frieden einkehrte

Saarbrücken. Pyrotechnik in deutschen Stadien, Pfefferspray, Ultra-Fans, Polizei, Angst - der deutsche Fußball scheint derzeit an einem Krebsgeschwür zu leiden, das Gewalt heißt

 Friedliche Ultra-Fans feiern in der sogenannten "Virage Est" (Ostkurve) des Ludwigsparkstadions ihren 1. FC Saarbrücken. Bis auf ein paar Ausnahmen ist dies das gewohnte Bild, weil Fans, Verein und Polizei zusammenarbeiten. Foto: Schlichter

Friedliche Ultra-Fans feiern in der sogenannten "Virage Est" (Ostkurve) des Ludwigsparkstadions ihren 1. FC Saarbrücken. Bis auf ein paar Ausnahmen ist dies das gewohnte Bild, weil Fans, Verein und Polizei zusammenarbeiten. Foto: Schlichter

Saarbrücken. Pyrotechnik in deutschen Stadien, Pfefferspray, Ultra-Fans, Polizei, Angst - der deutsche Fußball scheint derzeit an einem Krebsgeschwür zu leiden, das Gewalt heißt. Zumindest kann der Interessierte das glauben, wenn er sich durch den boulevardesken Blätterwald kämpft, seinem nach Wählerstimmen haschenden Innenminister zuhört oder die Sicherheitskonzepte der Deutschen Fußball-Liga durchliest.Peter Becker ist der Chef der Saarbrücker Polizeiwache Karcherstraße und damit verantwortlich für die Einsätze rund um die Heimspiele des Drittligisten 1. FC Saarbrücken. Er sitzt in der Sportredaktion der Saarbrücker Zeitung, gemeinsam mit Jörg Rodenbüsch, Leiter des Saarbrücker Fanprojektes "Innwurf", und mit Ultra "Nussi". Ultras unterstützen den Verein bedingungslos, sind aber nicht zu verwechseln mit Gewalt suchenden Hooligans. Einen Teil der Ultras stuft die Polizei als gewaltbereit ein. "Nussi" nicht. Becker hat ihm gerade einen Trikottausch angeboten. "Peter," sagt "Nussi" und lacht, "in den grünen Kittel passe ich doch gar nicht rein". Im echten Leben ist "Nussi" Diplom-Wirtschaftsingenieur. Seit den 1990ern pilgert der 30-Jährige zum FCS.

Rodenbüsch schmunzelt ob der Situation in der Redaktion: "Das ist wohl einmalig in Deutschland, dass ein Ultra und ein Polizist gemeinsam in einer Zeitungsredaktion sitzen", vermutet er. Dass sie da sitzen, hat mehrere Gründe: Der wichtigste ist die aktuelle Debatte um Sicherheit im deutschen Fußball. Die Drei wollen ihren gemeinsamen Standpunkt einbringen. Zumal die Diskussion vor drei Wochen einen Extrempunkt erreicht hat, als der Deutsche Fußballbund (DFB) und die Deutsche Fußball-Liga (DFL) gemeinsam das Strategiepapier "Sicheres Stadionerlebnis" vorstellten. Das Papier hat eine elfköpfige Kommission innerhalb weniger Wochen erarbeitet - auch weil sie unter Druck der Innenministerkonferenz stand, die von den Verbänden ein konsequenteres Vorgehen fordert.

Auslöser dafür waren das zuletzt vermehrte Abbrennen von Feuerwerkskörpern in Fanblöcken und Ausschreitungen rund um die Stadien. In der vergangenen Saison gab es 846 Verletzte in den zwei Bundesligen, sagt die Statistik. "Ihr müsst handeln", sagten daher die Innenminister zu den Verbänden, "sonst handeln wir". Stehplatzverbote hatten sie schon anklingen lassen. So kam es zu dem Papier, das - populistisch formuliert - Folgendes fordert: mehr Strafen, mehr Überwachung und Ignoranz von Datenschutz. Am 12. Dezember soll die Ligavollversammlung die Vorschläge verabschieden. Mit den Fans hat bisher niemand geredet. Gestern hat die DFL erklärt, dass sie noch vor dem 12. Dezember ein Treffen mit der "AG Fanbelange" plane. Rodenbüsch hält das für ein "Feigenblatt", da die "AG" kein "Mandatsträger der Fans" sei. "Wenn das Papier in dieser Form verabschiedet wird, ist es ein totes Papier. Wenn man die Fans nicht mitnimmt, wird es so nicht gelebt. Dann vertagt man das Problem nur", ergänzt Rodenbüsch. "Wir können keine Regeln machen, ohne mit den Fans zu reden", sagt Becker und "Nussi" ergänzt: "Repressive Maßnahmen haben noch nie dazu geführt, dass es friedlicher wird."

"160 Vertreter aus 47 Ultra-Szenen waren Anfang November in Berlin", um ihren Umgang mit dem Papier zu beraten, erzählt "Nussi". "Da wird es schon bis zum 12. Dezember medienwirksame Reaktionen geben", sagt er. Seit gestern ist bekannt: Die Ultras wollen vom 14. bis zum 16. Spieltag unter dem Titel "12:12 - Der zwölfte Mann wehrt sich" zu Spielbeginn schweigen, um zu zeigen, wie "Fußball ohne Fankultur" aussähe.

Dass die Redaktionsgäste das Papier ablehnen, ist aber vor allem einem geschuldet: ihrer Erfahrung. Sie bieten sich nicht nur einen Trikottausch an, sie tauschen sich auch regelmäßig auf Augenhöhe aus: Fankurve, Polizei, Fanprojekt, Verein, Stadt, Feuerwehr. "Wir sind ständig in Gesprächen", sagt Becker. Dabei sei das Ziel ein ganz einfaches: "Wir wollen gemeinsam das schöne Gesicht des Fußballs zeigen. Das war unser Konsens."

Eine Folge daraus: "Wir haben 2007 zur Kurve gesagt: Wenn ihr Verantwortung übernehmt, nehmen wir uns zurück und lassen euch für Ordnung sorgen." Im Gegenzug für diese Freiheit forderte die Polizei einen Verzicht auf Pyrotechnik im Ludwigspark. Die Ultras schlugen ein. "Damals hat man zu mir gesagt: Bist du bekloppt? Die halten sich da doch nie dran. Sie haben sich aber daran gehalten", sagt Becker. Und "Nussi" erklärt: "Die Freiheiten, die wir haben, haben in Deutschland die wenigsten Szenen." Dass solche Absprachen funktionieren, ist kein Selbstläufer, so Rodenbüsch: "Wir müssen stets reden, wir müssen uns immer wieder austauschen, immer wieder diskutieren. Es gibt auch immer wieder Grenzüberschreitungen - von beiden Seiten. Dann müssen wir uns wieder zusammensetzen", erklärt er. Was in Saarbrücken nicht geschieht, ist, dass die Verantwortlichen aus einer üblen Tat ein "Jetzt-ist-alles-vorbei"-Thema machen.

Insgesamt habe der stete Dialog dazu geführt, dass "wir unsere Einsatzstärke erheblich reduzieren konnten", sagt Becker. Und "Nussi" erklärt, dass es klare Ansagen in der Kurve gibt, "wenn einer aus dem Rahmen tanzt". Diese "Selbstregulierung" scheint der Schlüssel zur erfolgreichen Fanarbeit in Saarbrücken zu sein, den die Drei gerne in die bundesweite Diskussion einbringen würden. "Wir dürfen den Fußball einfach nicht zu einer Kegelveranstaltung machen", sagt Becker. "Dazu müssen wir uns alle respektieren und reden", ergänzt "Nussi". Bis hin zum Trikottausch eben.

"Wir können keine Regeln machen, ohne mit den Fans zu reden."

Polizei-Einsatzleiter

Peter Becker

Hintergrund

Ins Saarbrücker Ludwigsparkstadion kommen zu Heimspielen im Schnitt 4500 Zuschauer. Bis zu 400 Polizisten sind bei gefährlichen, bei sogenannten Rot-Spielen, im Einsatz. Bei "normalen" Spielen sind es 25. An die 400 werden am Dienstag (19 Uhr) auch beim Pokalspiel des FCS beim FC Homburg für Ordnung sorgen müssen. Die Polizei rechnet mit bis zu 160 gewaltbereiten Fans aus Saarbrücken und mit bis zu 60 aus Homburg.

 Zu Gast in der Sportredaktion der Saarbrücker Zeitung (von links): Polizei-Einsatzleiter Peter Becker, Fanprojektleiter Jörg Rodenbüsch und FCS-Ultra "Nussi". Foto: Oliver Dietze

Zu Gast in der Sportredaktion der Saarbrücker Zeitung (von links): Polizei-Einsatzleiter Peter Becker, Fanprojektleiter Jörg Rodenbüsch und FCS-Ultra "Nussi". Foto: Oliver Dietze

Gestern hat die DFL mitgeteilt, das Strategiepapier "Sicheres Stadionerlebnis" am 12. Dezember zu verabschieden. Die 36 Proficlubs hätten nun bis zum 22. November Zeit, Änderungsvorschläge zu machen. Geplant sei zudem ein Treffen mit Fan-Vertretern. Auch sollen die "Vollkontrollen", bei denen Zuschauer in Zelten vor den Stadien gefilzt werden, nicht vorgeschrieben werden. Dafür soll ein Dialog zwischen Clubs und Fangruppen im Papier festgehalten werden. kip/dpa

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