Wie ein Zwitschern Weltgeschichte schrieb

Washington · Botschaften in einer Länge von maximal 140 Zeichen, schnell und authentisch: Das Versprechen von Twitter klingt verlockend. Zehn Jahre nach seiner Gründung steht das Netzwerk aber vor einer unklaren Zukunft.

 Der piepende Vogel ist das Symbol des Kurznachrichtendiensts Twitter. Der Name bedeutet „Zwitschern“.

Der piepende Vogel ist das Symbol des Kurznachrichtendiensts Twitter. Der Name bedeutet „Zwitschern“.

Als Jack Dorsey am 21. März 2006 den ersten Tweet verschickte, war keineswegs abzusehen, dass der Strom an Kurzbotschaften einmal auf rund 500 Millionen pro Tag anschwellen sollte. "Ich richte nur mein twttr ein", schrieb der heute 39-Jährige Netzwerk-Mitgründer damals. Zehn Jahre später ist der Onlinedienst zu einer der einflussreichsten Kommunikationsplattform geworden. Doch ihr Stern sinkt.

Die Erfolgsgeschichte von Twitter begann 2005. Damals nahm Dorsey einen Job in der Podcasting-Firma Odeo des Internetunternehmers Evan Williams an und lernte die späteren Netzwerk-Mitgründer Noah Glass und Biz Stone kennen. Als der Internetriese Apple Podcasts in seinen Multimediakatalog iTunes aufnahm, drohte Odeo das Aus. Glass forderte die Mitarbeiter auf, nach neuen Geschäftsideen zu suchen. Beim Brain-Storming schlug Dorsey vor, kurze Statusmeldungen an alle Teammitglieder per SMS zu senden, damit jeder weiß, woran die anderen arbeiten. Daraus entstand die Idee für Twitter . Zwei Wochen später gabe es einen Prototyp und Dorseys erste Nachricht ("Tweet" genannt). Auf der Tech-Konferenz SXSW Interactive in Texas gelang Twitter dann im März 2007 der Durchbruch, einen Monat später wurde die Firma Twitter Inc. ausgegründet. Im November 2013 ging das Unternehmen an die Börse.

Heute nutzen rund 320 Millionen Menschen weltweit das soziale Netzwerk mindestens einmal im Monat. Was anfangs als Plattform zum Austausch von Belanglosigkeiten belächelt wurde, ist zum machtvollen Instrument sozialen Wandels geworden. Inzwischen gibt es kaum ein großes Ereignis, das nicht auch bei Twitter stattfindet. Die gewaltigen Demonstrationen beim "arabischen Frühling" ab 2011, der Bombenanschlag auf den Marathon in Boston und die nachfolgende Jagd auf die Täter, der Schrecken der Terrorattacken von Paris. Und das sind nur einige historische Momente, die man ohne Twitter anders wahrgenommen hätte.

Was das Netzwerk so beliebt macht: Twitter verschafft jedem Nutzer Zugang zu Menschen, an die sie sonst nicht herankommen würden - wie beispielsweise einen US-Präsidenten. Fans können Barack Obamas Tweets abonnieren und in Echtzeit verfolgen. 71 Millionen Menschen machen das. Die meisten registrierten Abonnenten ("Follower") hat die Popsängerin Katy Perry . Ihr folgen mehr als 84 Millionen.

Allerdings hat Twitter große Probleme. Es fehlt Geld. Das Netzwerk verbuchte 2015 zwar einen Umsatz von 2,2 Milliarden Dollar . Nur hat das Unternehmen noch nie schwarze Zahlen geschrieben. Angesichts zuletzt stagnierender Nutzerzahlen werden die Investoren ungeduldig, der Aktienkurs des Unternehmens dümpelt bei unter 20 Dollar . Nach dem Börsengang war der Kurs zwischenzeitlich auf 69 Dollar geklettert.

Unter Druck scheint Dorsey, der seit Oktober wieder Chef des Unternehmens ist, an jeder Schraube zu drehen, die er findet. Vor zwei Monaten deutete er an, dass die Obergrenze von 140 Zeichen pro Tweet fallen könnte und auf 10 000 angehoben werde. Zugleich experimentiert Twitter mit einer neuen Sortierung der Tweets. Sie sollen nicht mehr chronologisch geordnet, sondern wie bei Facebook besonders beliebte Botschaften zuerst angezeigt werden. Zudem verunsichern "Social Bots" die Nutzer. Das sind kleine Programme, die als gefälschtes Konto ihr Unwesen in sozialen Medien treiben. Ein beliebtes Ziel sind Politiker und gesellschaftliche Entwicklungen. Die Bots sollen diese diskreditieren. Hinter 20 Prozent aller Twitter-Konten sollen sich nach Schätzungen der Technischen Universität München solche Programme verbergen.

Zehn Jahre nach Gründung kämpft Twitter also an vielen Fronten. Es muss wachsen und Geld verdienen statt zu verbrennen. Dafür braucht es einen "tiefen Wandel", glaubt der Internetinvestor Lou Kerner. Doch dem stehen die Nutzer skeptisch gegenüber. Zudem wächst das Misstrauen gegen das Netzwerk. Eine Strategie gegen den Abstieg scheint Twitter-Chef Dorsey keine zu haben.

 Twitter-Mitgründer Jack Dorsey schrieb im März 2006 den ersten Tweet: „Ich richte nur mein twttr ein“. Fotos: dpa

Twitter-Mitgründer Jack Dorsey schrieb im März 2006 den ersten Tweet: „Ich richte nur mein twttr ein“. Fotos: dpa

 Markus Linden

Markus Linden

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Auch deutsche Politiker schwören auf Twitter . Klar, so können sie schnell und unkompliziert mit ihren Anhängern kommunizieren. Pannen sind inbegriffen. Beispielsweise bei Erika Steinbach : Die CDU-Bundespolitikerin löst mit ihren Beiträgen regelmäßig Stürme der Entrüstung aus. Verheerend war die Reaktion auf ihren geschichtsverklärenden Post: "Irrtum. Die NAZIS waren eine linke Partei. Vergessen? NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEI . . ." Das Netz zog tagelangüber Steinbach her. Peter Altmaier (CDU ) gilt quasi als Twitter-König der Bundespolitiker. Früh erkannte der Saarländer das Potenzial, das Netz feierte ihn. Doch auch bei ihm gab es Fehltritte. Sein größter aus Sicht der Union war 2012 ein Kommentar zum Christian-Wulff-Skandal. Er twitterte. "Ich mach mich jetzt vom Acker. Wünsche mir, dass Christian seine Anwälte an die Leine legt und die Fragen/Antworten ins Netz stellt." Da er ein enger Vertrauter der Kanzlerin ist, war dies als Signal Angela Merkels missverstanden worden. Renate Künast von den Grünen ist stets für einen Faux-pas gut. Vor wenigen Tagen schaute sie die Show von Anne Will und kommentierte: "oh je, es gibt bestimmt bessere Botschafter für Polen". Dumm nur: In der Talkrunde saß ein Abgeordneter aus der Slowakei. Legendär ist auch ein Tweet von Regierungssprecher Steffen Seibert von 2012: "Obama verantwortlich für Tod Tausender Unschuldiger, hat Grundwerte des Islam und aller Religionen verhöhnt." Er meinte Osama bin Laden. pbe

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