Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft
Berlin · Die Kanzlerin bringt mit kühl vorgetragener Flüchtlingspolitik ein palästinensisches Kind aus einem Flüchtlingslager im Libanon zum Weinen. Die Aufregung ist groß. Doch zugleich ist eine selten weiche Angela Merkel zu sehen.
"Erst streicheln, dann abschieben." Oder: "Zum Kotzen." So und böser waren die Reaktionen gestern auf die bemerkenswerte Begegnung der Kanzlerin mit einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen bei einer Diskussionsveranstaltung in Rostock. Das Video verbreitete sich rasend schnell (www.gut-leben-in-deutschland.de ), ebenso die Gegenattacken auf Twitter (#merkelstreichelt). Auch führende Grünen-Politiker beteiligten sich.
Aber hätte Angela Merkel der nach vier Jahren in Deutschland offenbar sehr gut integrierten Schülerin, die über ihre Lebensträume redete und wegen einer möglichen Abschiebung weinte, versprechen sollen: "Du darfst bleiben"? Noch ist das Asyl- und Aufenthaltsrecht kein Recht von Kanzler-Gnaden, sondern von Parlamenten entschieden worden, die die Bürger wählen. Oder hätte sie das Mädchen einfach ignorieren sollen? Den Shitstorm dann kann man sich erst recht ausmalen.
Merkel hat mit Empathie reagiert. Auch als Frau, der es nicht peinlich ist, jemanden tröstend in den Arm zu nehmen, wenn auch etwas hölzern. Es gibt eine Menge Verantwortungsträger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die das nicht gekonnt hätten. Für viele Bürger sind Politiker weit weg, je höher sie sind, umso weiter. Diese Distanz, im anonymen Netz noch vergrößert, ermöglicht erst ein Denken, dass Politiker eigentlich keine Menschen mit Gefühlen sind. Das sind sie aber. Sie leben in Familien, in kleinen wie großen Städten, in Nachbarschaften. Sie erleben Probleme und haben selbst welche. Angela Merkel ist in der DDR aufgewachsen, als Pfarrerstochter, und das war nicht immer ein Honigschlecken. Wolfgang Schäuble hat Frau und Kinder und sein Schicksal als Behinderter. Sigmar Gabriel hat ein sehr bewegtes privates Leben hinter sich, inklusive Nazi-Vater. Man soll den Politikern nicht unterstellen, dass sie seelenlose Roboter seien. Nur bekommen sie die emotionalen Seiten von Themen, die ihnen als Beschlussvorlagen oder Statistiken auf den Tisch kommen, nicht immer mit. Zu selten.
Das gilt aber auch für alle anderen Bürger . Viele Deutsche urteilen leicht über die Griechen und wissen zum Beispiel nicht, wie die griechische Sozialarbeiterin fühlt, die zwei Kinder hat, die sie nun mit ihrem auf 900 Euro gekürzten Gehalt durchbringen muss, weil ihr Mann arbeitslos geworden ist. Und deren Aufgabe es aktuell ist, verarmte Rentner vom Selbstmord abzuhalten. Auch sie weinte, es war bei einer Pressebegegnung in Athen, und sagte, manchmal wisse sie nicht mehr, wie sie sich selbst noch aufrecht halten solle. Diese Frau haben weder Angela Merkel noch Wolfgang Schäuble getroffen. Aber hätten sie es, so hätten sie gewiss nicht Augen und Seele verschlossen. So wie die Kanzlerin das in Rostock nicht getan hat.
Es ist wahrscheinlich, dass die Szene in ihr haften bleiben wird, auch wenn sie ihre Entscheidungen in der Ausländerpolitik nicht daran ausrichten kann und wird. Es ist ein hartes Erlebnis gewesen, für beide Beteiligten. Man muss sich wünschen, dass die Politiker möglichst oft solche Erlebnisse haben. Wenn es geht, ohne die ganze Häme des Netzes.