Wenn Momente wie in Zeitlupe vergehen

Das Warten stirbt aus. Jedenfalls das reine Warten ohne Ablenkung durch Internetsurfen, Chatten, Spielen. Beim Zahnarzt mag das seine Vorteile haben. Doch Experten warnen vor einem Kulturverlust.

Wie sagte einst der Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche: "Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen." Tatsächlich könnte so ziemlich jeder vom Warten ein genervtes Liedchen singen. Die Autorin Ulrike Gräff etwa sinnierte darüber in ihrem Buch "Warten - Ein ungelieber Zustand". Warum aber sind die meisten vom Warten so genervt? Weil es zum Innehalten, zur Geduld zwingt? Weil da ein Zeitvakuum entsteht, das wir nicht immer zielgerichtet nutzen können? Weil uns der Zustand des Wartens die innere Sanduhr vor Augen führt?

Gewiss, wir sind heute anspruchsvoller als früher, gerade was unser Zeitmanagement betrifft. Von jeder Minute des Lebens erwarten wir Erfüllung oder wenigstens Produktivität. Es muss etwas passieren, sonst werden wir unruhig. Stillstand wird als Rückschritt empfunden, Vorgesetzte impfen uns das ständig ein. Deshalb können es sich viele Menschen nicht mehr vorstellen, dass man vor noch nicht allzu langer Zeit im Wartezimmer des Doktors, an Bushaltestellen und auf Amtsstuben oft stundenlang nur rumgesessen hat. Heute gibt es das praktisch nicht mehr, weil nahezu jedes Kind und fast jeder Erwachsene mit einem Smartphone ausgestattet ist und sich die Zeit mit Surfen, Chatten oder Spielen vertreibt. Das Ende der Langeweile - ist das eine Erlösung?

Ohne Zweifel: Das Warten kann quälend sein. Zum Beispiel auf einen ärztlichen Befund. Da gesellt sich zum Warten mitunter die nackte Angst. Auch beim Zahnarzt sind die meisten Menschen für jede Ablenkung dankbar. Trotz allem meint der Philosoph Stefan Gosepath: "Wenn wir das Warten verlernen würden, wäre das ein kultureller Verlust." Warten können hat etwas mit Selbstdisziplin zu tun. Heute können viele noch nicht mal drei Minuten an der Supermarktkasse warten, ohne das Handy zu zücken. Und wenn das aus irgendeinem Grund nicht geht, werden die Leute zappelig.

"Das Warten - so unangenehm es auch war oder ist - hat auch etwas Positives", meint der Kommunikationswissenschaftler Peter Vorderer von der Universität Mannheim . "Da ist dieser Moment der Kontemplation. Ein Moment der Pause. Man lässt die Welt auf sich wirken. Man kann nachdenken. Dass diese Erfahrung verschwindet, ist sicherlich ein Problem. Auf jeden Fall wird es etwas sein, was uns und unser Denken nachhaltig verändern wird." Von Kindern weiß man, dass sie nicht kreativ sein können, wenn sie ein vollgepacktes Programm haben. Sie brauchen die Langeweile, um selbst Ideen zu entwickeln. Bei Erwachsenen ist das nicht anders.

"In der Erfahrung des Wartens liegt eine Chance", sagt Stefan Gosepath, Professor an der Freien Universität Berlin. "Man braucht die Phasen des Nichtstuns, auch der Langeweile, zum Beispiel während einer Fahrt in der U-Bahn, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Was man sonst fast nur beim Psychotherapeuten kann." Man schaut aus dem Fenster, die Gedanken gleiten weg - und mit einem Mal hat man einen guten Einfall. Plötzlich weiß man, wie man etwas anpacken muss. "Das ist natürlich nicht garantiert, aber wenn man keine Gelegenheiten schafft für solche Gedanken, dann kommen sie auch nicht", sagt Gosepath. Doch nicht nur das Denken, auch das Sehen könnte an Qualität verlieren, wenn das Warten vollends abgeschafft wird. Es geht um die Fähigkeit, genau hinzuschauen. Wenn man Morgen für Morgen an derselben Haltestelle wartet, fallen einem kleinste Veränderungen auf. Die Frau, die auch jeden Tag da steht, trägt einen neuen Mantel, die Fenster von gegenüber andere Vorhänge.

Heute gucken vor allem junge Leute nicht mal vom Display auf, wenn sie in den Bus steigen. Schon äußern Künstler und Galeristen die Befürchtung, dass die heranwachsende Generation sogar das Bildersammeln im Kopf verlernen könnte - weil sie es eben nicht mehr gewohnt ist, immer wieder denselben Anblick zu ertragen. Die Bilder müssen, die Werbung im Fernsehen und Kino macht es vor, im Sekundentakt oder noch schneller wechseln. Ältere Menschen, ans Warten noch gewohnt, können dem Tempo nicht folgen.

Wissenschaftler Vorderer glaubt allerdings, dass das Warten ein Comeback erleben wird. "Ich bin davon überzeugt, dass wir uns diese Momente des Wartens zurückholen werden." Die Überflutung mit Kommunikation sei so dramatisch, dass es unweigerlich zu einer Gegenreaktion kommen werde. Nur: Wann?

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