Weltoffener Reformer oder willfährige Marionette?

Fuzhou im Sommer 1992. Peng Liyuan, Chinas bekannteste Volksmusiksängerin, ist hochschwanger. Ihren Mann, den Stadtparteisekretär, sieht sie wegen seiner vielen Dienstreisen normalerweise nur einmal im Monat, aber rund um den Geburtstermin hat er sich den Kalender frei gehalten. Auf keinen Fall will er die Ankunft seines Kindes verpassen

Fuzhou im Sommer 1992. Peng Liyuan, Chinas bekannteste Volksmusiksängerin, ist hochschwanger. Ihren Mann, den Stadtparteisekretär, sieht sie wegen seiner vielen Dienstreisen normalerweise nur einmal im Monat, aber rund um den Geburtstermin hat er sich den Kalender frei gehalten. Auf keinen Fall will er die Ankunft seines Kindes verpassen. Doch dann nimmt ein Wirbelsturm Kurs auf die Hauptstadt der südchinesischen Provinz Fujian. Dörfer müssen evakuiert und Rettungskräfte organisiert werden, und der Parteichef lässt es sich nicht nehmen, persönlich das Einsatzkommando zu übernehmen. Die Arbeit fürs Volk geht eben vor, und Peng Liyuan bringt ihre Tochter alleine zur Welt.Die Anekdote, deren Wahrheitsgehalt schwer zu beurteilen ist, wird derzeit quer durch die chinesischen Staatsmedien kolportiert. Denn der vielbeschäftigte Mann der berühmten Sängerin ist Xi Jinping, Chinas designierter Staatschef. Bei ihrem gestern in Pekings Großer Halle des Volkes begonnenen Parteitag wird die Kommunistische Partei ihn zu ihrem 15. Generalsekretär wählen.

Im kommenden Frühjahr soll der 59-Jährige dann von Chinas parteikontrollierten Parlament, dem Nationalen Volkskongress, zum Präsidenten ernannt werden. Über kurz oder lang dürfte Xi auch Chinas drittes Schlüsselamt übernehmen, den Vorsitz der zentralen Militärkommission. Als "Herz der fünften Führungsgeneration" soll Xi dann ein Jahrzehnt lang die Geschicke des 1,3-Milliarden-Menschen-Landes steuern und Chinas Transformation von einem boomenden Entwicklungsland zu einer etablierten Weltmacht bewerkstelligen.

Die strategisch gestreuten Histörchen aus Xis Privatleben sollen den neuen Staatschef im Volk bekannt und beliebt machen - und darüber hinwegtäuschen, wie wenig die Chinesen und der Rest der Welt darüber wissen, wer in China eigentlich das Sagen hat. Als 2002 Xis Vorgänger Hu Jintao die Macht übernahm, kalauerte die internationale Presse "Who is Hu?" Zehn Jahre später ist die Welt nicht viel schlauer geworden.

Für Hus Nachfolger könnte man fast die gleiche Frage stellen: "Wie ist Xi?" Denn auch der bisherige Vize-Staats- und Parteichef hat bisher wenig Profil gezeigt. Während die Chinesen in ihren Zeitungen verfolgen können, wie im Vorfeld der fast zeitgleich stattfindenden US-Wahlen um unterschiedliche Zukunftsvisionen gestritten wird, macht die KP ihnen nur ein einziges Wahlversprechen: Chinas Aufstieg geht weiter. Wie sie dieses Versprechen einlösen wollen, dazu geben Xi und die voraussichtlich sechs weiteren Spitzenkader, die den Ständigen Ausschuss des Politbüros bilden werden, kaum Anhaltspunkte. Der ständige Ausschuss gilt als innerster Machtzirkel der Partei. Optimisten sehen in Xi einen weltoffenen Reformer, unter dem die Volksrepublik nach wirtschaftlichen Umbrüchen endlich auch eine politische Erneuerung erleben könnte. Pessimisten glauben dagegen, dass Xi weder den Willen noch den Spielraum für einen Systemumbau hat und die Autorität der Partei wie sein Vorgänger mit einer Mischung aus Nationalismus, Propaganda und Repressionen zu verteidigen versuchen wird.

"Xi wird am Anfang noch sehr stark unter dem Einfluss seines Vorgängers stehen", sagt John Wong, China-Experte von der National University of Singapore. "Welche eigenen Ideen er hat, werden wir wohl erst in einigen Jahren sehen, und dann ist immer noch sehr fraglich, ob er sie überhaupt durchsetzen kann." Der ebenfalls in Singapur lehrende Parteiexperte Bo Zhiyue traut Xi keine großen Visionen zu und glaubt, dass er schwächer sein werde als seine Vorgänger. "Hu Jintao brachte noch eine gewisse Autorität mit, weil er von Deng Xiaoping persönlich ausgesucht war, aber er hat davon wenig Gebrauch machen können", erklärt Bo. "Xi Jinping ist ein Konsenskandidat der unterschiedlichen Parteifraktionen und kann nur Entscheidungen durchsetzen, über die im Führungskollektiv Einigkeit herrscht."

Wie die Partei funktioniert, weiß Xi von jüngster Kindheit. Der Präsident in spe gehört zur Pekinger Prinzengarde, den Nachkommen ehemaliger Parteigrößen. Sein Vater Xi Zhongyun gründete in den 1930ern eine kommunistische Guerillabewegung und kämpfte an der Seite Mao Zedongs. Im Zuge der Kulturrevolution fiel der ältere Xi 1968 in Ungnade, worauf sein 15-jähriger Sohn das privilegierte Leben im Pekinger Regierungsviertel aufgeben musste und mit anderen städtischen Jugendlichen als Landarbeiter in die Provinz geschickt wurde. Er erwies sich als strammer Jungrevolutionär und wurde trotz seines Familienhintergrunds in die Partei aufgenommen und sogar Parteichef seiner Arbeitseinheit.

Nach Maos Tod (1976) wurde die Familie rehabilitiert und Xi Zhongyun zu einem engen Vertrauten von Reformpatriarch Deng Xiaoping. Sein Sohn studierte an der elitären Pekinger Tsinghua-Universität Chemie und begann nach seinem Abschluss seine Karriere im Staatsapparat.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
OrganspendeHeute zeichnet die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) das Marienhaus Klinikum Saarlouis-Dillingen für sein vorbildliches Engagement im Bereich der Organspende aus. Derzeit warten etwa 12 000 Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan.
OrganspendeHeute zeichnet die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) das Marienhaus Klinikum Saarlouis-Dillingen für sein vorbildliches Engagement im Bereich der Organspende aus. Derzeit warten etwa 12 000 Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan.
LiteraturWir haben mit dem Schweizer Erfolgsautor Martin Suter über Vergänglichkeit und seinen neuen Roman "Die Zeit, die Zeit" gesprochen, außerdem stellen wir die neuen Romane von Corinna T. Sievers, Michael Maar und dem rumänischen Autor Norman Manea v
LiteraturWir haben mit dem Schweizer Erfolgsautor Martin Suter über Vergänglichkeit und seinen neuen Roman "Die Zeit, die Zeit" gesprochen, außerdem stellen wir die neuen Romane von Corinna T. Sievers, Michael Maar und dem rumänischen Autor Norman Manea v