Wahlsieger Juncker zwischen den Fronten

Brüssel · Erst standen die Staats- und Regierungschefs hinter Jean-Claude Juncker. Jetzt – nach der Wahl – gibt es Bedenken gegen eine schnelle Festlegung auf ihn als EU-Kommissionspräsidenten. Auch die Kanzlerin zögert.

Für Jean-Claude Juncker ist es ein bitterer Abend. Nur Stunden zuvor hatte er von den Fraktionschefs im Europäischen Parlament Rückendeckung bekommen. An diesem Dienstagabend aber fallen ihm ausgerechnet die in den Rücken, in deren Kreis er selbst 18 Jahre lang als luxemburgischer Premier saß: die Staats- und Regierungschefs. Die Demontage vollzieht sich scheibchenweise: "Ich habe Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat unterstützt. Das habe ich nach dem Wahltag nicht vergessen", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Aber dann fällt der Satz, der - staatspolitisch formuliert - ihre ganze innere Distanz zu dem einstigen Kollegen zum Ausdruck bringt: "Die EVP hat ihn nominiert. Diese ganze Agenda kann von ihm, aber auch von vielen anderen erledigt werden." Der EU-Gipfel hat die Personalie Juncker nicht nur aufgeschoben, man sieht ihn auch als austauschbar an. Ein Mitglied der Kanzler-Delegation sagt am Ende, er habe seine Regierungschefin noch nie so streitlustig erlebt.

Tatsächlich klafft eine tiefe Kluft zwischen den 28 Staatenlenkern. Nicht mehr nur der Brite David Cameron (der übrigens auch den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz strikt ablehnt) und der Ungar Viktor Orbán stellen sich gegen Juncker, sondern auch die Regierungschefs aus den Niederlanden, Schweden und Finnland. Allesamt Schwergewichte. Aber vor allem die Wortführer wollen weg von der Diskussion um Personen und Ämter oder gar Institutionen. "Wir brauchen eine Einstellung, die anerkennt, dass Brüssel zu groß, zu rechthaberisch und zu eingreifend geworden ist", sagte Cameron in der Nacht. Die Gemeinschaft dürfe die Ergebnisse der Wahl nicht "einfach achselzuckend abtun" und so weitermachen wie bisher. Gleich nebenan gab ihm der französische Staatspräsident François Hollande Recht. "Europa muss sich auf das Wesentliche konzentrieren", sagt er etwas ruhiger als sein britischer Kollege. Hinter verschlossenen Türen, so bestätigt einer, der dabei war, habe es fast schon zynische Ausfälle gegen Staubsauger-Regelungen und Glühbirnen gegeben. Die Nichtraucher-Kampagne sei "ein Witz", habe einer der Regierungschefs laut in die Runde gerufen. "Wir haben 27 Millionen Arbeitslose und der Kommission fällt nichts Besseres ein, als das Übergewicht zu bekämpfen", habe ein anderer geschimpft.

Man einigt sich schließlich darauf, sich nicht zu einigen. Ratspräsident Herman Van Rompuy soll bis Ende Juni Vorschläge ausarbeiten - dazu gehört auch die Personalie Juncker als Teil eines größeren Paketes offener Jobs, die die EU in den nächsten Monaten besetzen muss. Vor allem wollen die Staats- und Regierungschefs aber Vorschläge, wie in den kommenden fünf Jahren Initiativen für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze gesetzt werden sollen. Hinter den Schlagworten steckt ein Kurswechsel, der tief geht: Vor allem London und Paris drängen darauf, dass die strengen Haushaltsvorgaben aus Brüssel gelockert werden, um mehr Schulden machen zu können, mit denen Konjunkturprogramme finanziert werden.

Doch dazu würde ein Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker möglicherweise nicht passen, der sowohl als Premier in Luxemburg wie auch als Chef der Euro-Gruppe von der Schuldenbremse bis zu Haushaltsüberwachung alle EU-Regelungen mitgestrickt hatte. "Wir brauchen den Richtigen für das, was jetzt richtig ist", formulierte es ein Staatschef, als keine Mikrofone eingeschaltet waren. "Ob Juncker das sein kann, werden wir sehen." Doch der EU-Gipfel, dem der Lissabonner Vertrag das Recht auf Benennung des Kandidaten für den Chefsessel der Kommission zugesteht, muss sich auf Widerstand gefasst machen. Im Europäischen Parlament rumort es bereits, keine drei Tage nach seiner Neuwahl. Abgeordnete sprechen von einem "Krieg" mit dem Europäischen Rat, wie die Runde der Staats- und Regierungschefs offiziell heißt. Denn auch die Volksvertreter stehen laut Vertrag nicht machtlos da: Sie müssen den Vorschlag der Chefs mit einer Mehrheit von mindestens 376 Stimmen annehmen.

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HintergrundRechtsextreme Abgeordnete wollen im Europaparlament um die französische Front National (FN) herum eine eigene Fraktion bilden. Das kün digte FN-Chefin Marine Le Pen in Brüssel an. Um eine Fraktion zu bilden, müssen sich 25 Abgeordnete aus sieben Mitgliedstaaten zusammenschließen. Le Pen trat mit Vertretern der niederländischen PVV, der österreichischen FPÖ, der italienischen Lega Nord und der belgischen Vlaams Belang (VB) vor die Presse. Eine Zusammenarbeit mit der ungarischen Jobbik-Partei, der ultranationalistischen Ataka-Partei aus Bulgarien oder der Neonazi-Partei Avgi aus Griechenland schließt Le Pen aus. afp

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