Von Flüchtlingen, Lawinen und Skifahrern

Berlin · Die Empörung ist groß. Wolfgang Schäuble vergleicht die Flüchtlingsbewegung mit einer Lawine. Aber nicht nur das. Der Finanzminister beschreibt auch, wer sie ausgelöst haben könnte. Den Namen der Kanzlerin nennt er nicht.

Angela Merkel als Auslöserin einer Lawine? Die Kanzlerin ist Ski-Langläuferin. Die treten in der Regel solche Naturgewalten nicht los. Trotzdem darf man annehmen, dass Wolfgang Schäuble mit dem Vergleich in der Flüchtlingspolitik auf Merkel abzielt. Foto: Splash/Corbis

Angela Merkel als Auslöserin einer Lawine? Die Kanzlerin ist Ski-Langläuferin. Die treten in der Regel solche Naturgewalten nicht los. Trotzdem darf man annehmen, dass Wolfgang Schäuble mit dem Vergleich in der Flüchtlingspolitik auf Merkel abzielt. Foto: Splash/Corbis

Foto: Splash/Corbis

Wolfgang Schäuble redet an diesem Abend wieder Tacheles und frotzelt in alle Richtungen. Und kommt zwischen Europa und Bankenregulierung auf die Flüchtlingskrise zu sprechen. Dabei vergleicht er die Zuwanderung nicht nur mit einer Lawine, womit er all jene bedient, die in der Union auf eine härtere Gangart pochen. Er liefert auch gleich eine Erklärung für den Auslöser einer solchen Naturgewalt. Jetzt wird gerätselt, wen er damit meinen könnte. Angela Merkel dürfte sich angesprochen fühlen.

Das Bild von der Lawine platzt aus dem Finanzminister nicht einfach heraus. Der CDU-Politiker formuliert es auf der Veranstaltung der Denkfabrik CEP durchaus mit Bedacht. "Ob wir schon in dem Stadium sind, wo die Lawine im Tal unten angekommen ist, oder ob wir in dem Stadium im oberen Drittel des Hanges sind, weiß ich nicht", sagt er. "Wenn wir im oberen Drittel des Hanges sind, ist das Bild von der Lawine eine ziemliche Herausforderung."

Der erfahrene Politik-Profi und langjährige Minister belässt es aber nicht nur bei dem umstrittenen Lawinen-Bild und der Katastrophen-Metapher, die zumindest im konservativen Flügel der Unionsparteien dankbar aufgenommen werden dürfte. Zumal er die Lawine, deren zerstörerische Kraft alles niederwalzt und mit sich reißt, offensichtlich schon losgetreten sieht. Mit dem Vergleich setzt sich Schäuble, der auch gern mal zündelt, einmal mehr von Regierungs- und CDU-Chefin Angela Merkel ab - und kann sich einen Seitenhieb zudem nicht verkneifen: "Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht (. . .) und ein bisschen Schnee bewegt."

Natürlich nennt Schäuble keine Namen und spricht natürlich auch nicht von Ski-Fahrerinnen. Das ist wieder einer dieser vieldeutigen typischen Sätze, die der 73-jährige Taktik-Meister gern mal so hinwirft. Nicht immer angreifbar, aber nie ohne Hintergedanken. Man ahnt, wer gemeint sein könnte als "unvorsichtiger Skifahrer ".

Denn nicht Wenige in der Union machen die Kanzlerin dafür verantwortlich, mit ihren Entscheidungen im Sommer und der "Wir schaffen das"-Willkommenskultur die Zuwanderung noch angeheizt zu haben. Schäuble wird die Spekulation über seinen Satz als Quatsch und Unterstellung abtun. Zumal er weiß, dass Merkel ja Ski-Langläuferin ist. Die lösen in der Regel keine Lawinen aus.

So befeuert Schäuble - gewollt oder ungewollt - die Debatte über seine aktuelle Rolle. Und die seit Wochen durch Berlin wabernden Verschwörungstheorien, wonach der Finanzminister als Galionsfigur der Konservativen bei wachsendem Unmut in der Union und einem möglichen Abgang Merkels das Kanzleramt übernehmen könnte.

Bei seinen Kritikern löst Schäuble einen Sturm der Empörung aus. Die sprechen von einer Entgleisung. Flüchtlinge dürften nicht mit Naturkatas-trophen wie Wellen, Strömen und Lawinen verglichen werden. Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel meint: "Ich kann mir das Bild nicht zu eigen machen. Ich würde einen solchen Vergleich nicht wählen." Justizminister Heiko Maas (SPD ) attackiert den Kassenwart per Kurznachrichtendienst Twitter : "Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe." In sozialen Netzwerken wird Schäuble am Morgen nach seiner Rede als Aufwiegler in die Ecke von Fremdenfeinden gestellt - zusammen mit der rechtskonservativen AfD.Die Bundesregierung weiß nicht genau, wie viele Flüchtlinge aktuell in den deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind. Dies geht aus einer Antwort auf die Anfrage der Grünen-Politikerin Renate Künast hervor. Innenstaatssekretär Ole Schröder (CDU ) teilt darin mit, der Bunderegierung liege "keine Gesamtübersicht über die Zahl der in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebrachten Asylbewerber vor". Der Regierung sei auch "nicht bekannt, wie viele Personen von den Erstaufnahmeeinrichtungen auf die Kommunen verteilt wurden". Schröder verwies allerdings darauf, dass zwischen Anfang Januar und Anfang November gut 770 000 Flüchtlinge im Rahmen des sogenannten EASY-Verfahrens verteilt worden seien.

Der Gesamtpersonalrat des Flüchtlingsbundesamts (Bamf) hat erhebliche Bedenken wegen der derzeitigen Praxis bei der Bearbeitung von Asylanträgen von Syrern. Das verkürzte schriftliche Verfahren ohne eingehende Prüfung der Bewerber sei anfällig für Betrug, zitierte die "Welt" gestern aus einem Brief des Gesamtbetriebsrats. Nach der Erfahrung der Bearbeiter sei davon auszugehen, dass es einen "hohen Anteil von Asylsuchenden gibt, die eine falsche Identität angeben, um eine Bleibeperspektive (...) zu erhalten". Die Personalvertreter widersprachen auch der offiziellen Darstellung der Behörde, wonach die Mitarbeiter die Angaben zur Identität akribisch prüften: "Tatsächlich verzichtet das Bundesamt auf eine Identitätsüberprüfung."

Meinung:

Der Wind dreht sich

Von SZ-KorrespondentHagen Strauß

Wolfgang Schäuble ist so lange im politischen Geschäft, dass man nicht annehmen sollte, er würde öffentlich irgendetwas ohne Bedacht und ohne Hintergedanken sagen. Das muss man wissen, wenn man seine jüngsten Äußerungen zur Flüchtlingskrise richtig verstehen will. Mit dem unvorsichtigen Skifahrer , der eine Lawine ausgelöst hat, kann nur die Kanzlerin gemeint sein. Es ist Schäubles rhetorische Masche, dass er in Vergleichen oder im Ungefähren formuliert, und trotzdem für jeden erkennbar werden soll, was er dahinter verbirgt. Unvorsichtige Skifahrer sind welche, die sich selbst überschätzen. So denkt Schäuble über Merkel. Die muss jetzt wirklich nervös werden. Der Wind dreht sich gegen sie. Das wurde schon bei den letzten Fraktionssitzungen deutlich. Auch die CDU-Chefin scheint jetzt die Dramatik der Lage erkannt zu haben. Heute will sie sich im Fernsehen zur Flüchtlingskrise befragen lassen. Das ist notwendiger denn je.

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