Steht der EU-Türkei-Deal vor dem Aus? Das große Elend auf den griechischen Inseln

Brüssel · Von unmenschlichen Zuständen ist die Rede. Deshalb wächst die Angst vor einem neuen Flüchtlingsstrom. Steht der EU-Türkei-Deal vor dem Aus?

 780 Menschen wurden vor wenigen Tagen per Schiff nach Thessaloniki gebracht. Die Griechen tun sich schwer mit der Logistik.

780 Menschen wurden vor wenigen Tagen per Schiff nach Thessaloniki gebracht. Die Griechen tun sich schwer mit der Logistik.

Foto: AP/Giannis Papanikos

Als Fatima Anfang Juli endlich in der Kinderklinik des Flüchtlingslagers Moria ankommt, muss ihr Vater sie tragen. Damals, so berichteten die Helfer von „Ärzte ohne Grenzen“ unserer Zeitung, explodierte eine Bombe vor dem Haus der afghanischen Familie. Ihr Bruder starb bei dem Anschlag, gerade mal vier Jahre alt. Fatima wurde auf die andere Straßenseite geschleudert, ihr Bein schwer verwundet. Einen Monat später floh die Familie in die Türkei.

Die dortigen Ärzte operierten das Mädchen zwar, erklärten aber, es gebe „ein Problem“ mit dem Rückenmark, und sie könnten nicht mehr machen. „Wir hatten keine andere Wahl, als hierher zu kommen“, erzählte ihr Vater bei der Ankunft den Medizinern der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die das Kind daraufhin erstmals pädiatrisch behandeln. Es ist nur eine Szene aus dem völlig überfüllten Auffangzentrum Moria auf der griechischen Insel Lesbos, wo die Familie in einem Container mit gerade mal vier Quadratmetern Platz lebt. Das griechische Gesundheitssystem hat lediglich zwei Mediziner für rund 10 000 Menschen abgestellt. Ohne die Hilfesorganisationen ginge gar nichts.

Vor einigen Wochen eskalierte die Situation, Flüchtlinge demonstrierten und forderten Hilfe. Daraufhin ließ die Athener Regierung etwa 1500 Menschen auf das Festland bringen. Allein im August kamen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR rund 8000 Menschen aus der Türkei nach Lesbos. Vor allem an den griechischen Behörden gibt es viel Kritik. Die Abwicklung der Verfahren, die Erfassung der Hilfesuchenden – alles geschehe zu langsam. Nicht nur deswegen wächst die Angst vor einem neuen Flüchtlingsstrom. Präsident Recep Tayyip Erdogan droht mit der Öffnung der Grenzen, heißt es – und mit dem Aus für den Flüchtlingsdeal, der die Zahlen seit dessen Start 2016 so drastisch hatte sinken lassen. „Das ist eine politikgemachte Krise – und sie ist nicht neu“, kommentiert Tommaso Santo, Landeskoordinator von „Ärzte ohne Grenzen“ in Griechenland. Die Schuld dafür liegt vor allem bei Griechenland, sagen Experten. Die Griechen „bekommen es in der Praxis einfach nicht auf die Reihe“, meinte auch Daniel Thym, Direktor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht in Konstanz, in einem Zeitungsinterview. „Der Türkei-Deal wurde nie konsequent umgesetzt, weshalb Erdogan auch nicht einfach die Schleusen öffnen kann – sie waren ja nie geschlossen.“ 

Vor drei Jahren vereinbarten Ankara und die EU, Migranten, die illegal einreisen und von türkischem Boden nach Griechenland fahren, wieder zurückzuschicken. Das passierte selten, meist aber gar nicht. Für die Mithilfe der Türkei stellte Brüssel sechs Milliarden Euro zur Verfügung, damit das Land am Bosporus die insgesamt 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Lediglich 2,4 Milliarden Euro wurden bisher ausgezahlt. Der Rest hängt zwischen Zusage und Planung fest. Projekte kommen nicht weiter. Erdogan, so heißt es in Brüssel, fordere also nur, was ihm eigentlich zustehe. Dabei war man bisher doch zufrieden mit der Zusammenarbeit, die Türkei habe sich stets an ihre Verpflichtungen gehalten, sagte ein Vertreter der EU-Kommission.

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