US-Depeschen düpieren Politiker in aller Welt "Wir brauchen offene Einschätzungen"

Washington. Die Enthüllungsplattform Wikileaks hat mehr als 250 000 Dokumente von US-Diplomaten in aller Welt veröffentlicht. Der "Spiegel", die "New York Times" und andere Zeitungen berichteten gestern Abend ausführlich über die Inhalte der Depeschen, in denen Details aus vertraulichen Gesprächen sowie persönliche Einschätzungen über Politiker enthalten sind

Washington. Die Enthüllungsplattform Wikileaks hat mehr als 250 000 Dokumente von US-Diplomaten in aller Welt veröffentlicht. Der "Spiegel", die "New York Times" und andere Zeitungen berichteten gestern Abend ausführlich über die Inhalte der Depeschen, in denen Details aus vertraulichen Gesprächen sowie persönliche Einschätzungen über Politiker enthalten sind. Die Depeschen decken laut "Spiegel" zum größten Teil den Zeitraum von 2003 bis Ende Februar 2010 ab. Die Veröffentlichung war von den Regierungen in aller Welt mit Nervosität erwartet worden, weil sie Einschätzungen von US-Diplomaten zu Politikern ihres Gastlands, vertrauliche Absprachen und geheime Informationen enthielten.

Unter den deutschen Politikern kommt Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) besonders schlecht weg. Er gilt als außenpolitisch unerfahren. Washington stört vor allem seine Forderung nach einem Abzug aller US-Atombomben aus Deutschland. Laut "Spiegel" hält das US-Außenministerium das Kanzleramt für den besseren Ansprechpartner und bescheinigt Kanzlerin Angela Merkel (CDU, Foto: dpa) "mehr Erfahrung in Regierungsarbeit und Außenpolitik" als Westerwelle. Die Kanzlerin selbst wird eher nüchtern beurteilt. In einem Memo an Obama vor seinem Treffen mit Merkel im April 2009 beschreibt der damalige Geschäftsträger der US-Botschaft, John Koenig, die Kanzlerin als "methodisch, rational und pragmatisch". Unter Druck agiere sie "beharrlich, aber sie meidet das Risiko und ist selten kreativ." Gut kommt Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) weg. Er werde als "enger und bekannter Freund der USA" gesehen.

Über die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und FDP im Oktober 2009 wurde der US-Botschaft aus erster Hand berichtet. Bei dem Informanten handle es sich um einen "jungen, aufstrebenden Parteigänger" der FDP, schrieb der US-Botschafter in Berlin, Philip Murphy.

Abfällig äußerte sich der US-Botschafter in Moskau über den russischen Präsidenten Dmitri Medwedew, der als "blass" und "zögerlich" beschrieben wird. Ministerpräsident Wladimir Putin sei ein "Alpha-Rüde". Aus Peking wird berichtet, dass Teile der dortigen Führung "die Eskapaden ihres nordkoreanischen Verbündeten Kim Jong Il satthaben" und sich eine Wiedervereinigung Nord- und Südkoreas vorstellen könnten.

Aus dem Nahen Osten heißt es, dass zahlreiche arabische Staaten mit den USA gegen den Iran paktierten. König Abdullah von Saudi-Arabien habe Washington dazu gedrängt, den Iran anzugreifen, um das Atomprogramm des Landes zu zerstören.

Die Freigabe der Dokumente sei "unverantwortlich und gefährlich", erklärte das Weiße Haus. Die Enthüllungen "gefährden unsere Diplomaten, die Mitglieder des Geheimdienstes und Menschen in aller Welt, die die USA bitten, ihnen beim Aufbau von Demokratie und transparenter Regierungsführung zu helfen", sagte der Sprecher von US-Präsident Barack Obama, Robert Gibbs. US-Botschafter Murphy rechtfertigte die Berichte als normale Arbeit: "Wir reden mit Leuten, man lernt sich kennen, man vertraut sich, man teilt Einschätzungen." Er sei "unglaublich wütend" auf denjenigen, der das Material heruntergeladen habe. afp

Blicken Sie mit Sorge auf die Veröffentlichung von Wikileaks?

Schockenhoff: Dass es interne Einschätzungen gibt, gehört doch zum Leben. Es ist natürlich problematisch, wenn so etwas nun öffentlich wird. Aber damit muss man eben umgehen.

Wird das deutsch-amerikanische Verhältnis leiden?

Schockenhoff: Nein, es wird nicht leiden. Aber der persönliche Umgang wird sich wohl verändern. Man wird sich noch kontrollierter und professioneller begegnen und sich noch weniger trauen, irgendeine Art von Emotionalität zuzulassen. Denn jeder der Partner muss damit rechnen, dass das alles irgendwann in der Zeitung steht.

Auch die deutschen Botschafter schicken regelmäßig Lageberichte nach Berlin. Sollten sie nun vorsichtiger formulieren?

Schockenhoff: Auf keinen Fall. Wir brauchen zuverlässige und offene Einschätzungen unserer Botschafter über die Situation in einem Land und über die Politiker dort. Es wäre die völlig falsche Konsequenz, solche Berichte einzustellen.

Meinung

Eine große Blamage

Von SZ-Redakteur

Volker Meyer zu Tittingdorf

Die Veröffentlichung der amerikanischen Diplomatenpost ist sicherlich spektakulär, erlaubt sie doch einen Blick in die Hinterzimmer, in denen die Politprominenz verhandelt. Nicht zuletzt befriedigen die Enthüllungen den Voyeurismus. Wirklich brisant und überraschend erscheinen die Depeschen den bisherigen Berichten nach kaum. Für die USA bedeuten die Veröffentlichungen aber ein beispielloses Desaster. Der politische Schaden ist kaum zu ermessen, und es wird dauern, die Verletzungen zu heilen und Vertrauen wieder aufzubauen. Die Schuld an der Blamage trägt die US-Regierung jedoch selbst. Sie hat es versäumt, den Schriftverkehr wirksam vor unerlaubten Zugriffen zu schützen.

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