Unheilbar krank? Unheilbar lebensfroh

Saarbrücken · Der Homburger Palliativmediziner Sven Gottschling ist Spezialist für gutes Sterben. Er ermöglicht „Leben bis zuletzt“.

 In der Pose des Heavy-Metal-Fans: Sven Gottschling ist eine facettenreiche Frohnatur – das hilft, wenn man täglich mit dem Sterben zu tun hat, sagt der Arzt. Foto: Rich Serra

In der Pose des Heavy-Metal-Fans: Sven Gottschling ist eine facettenreiche Frohnatur – das hilft, wenn man täglich mit dem Sterben zu tun hat, sagt der Arzt. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Früher war Sven Gottschling (45) leidenschaftlicher Windsurfer. Der Traum vom idealen Sterben ging so: In Hawaii von einer acht Meter hohen Welle gegen ein Riff geknallt werden. Great! Früher machte er auch gerne Witze: "Am besten steigt man abends gut gelaunt ins Bett und wacht morgens tot auf." Früher hatte er auch keine vier Kinder. Vor allem aber hatte er nicht die Erfahrung. Heute erlebt er täglich die heilende Kraft bewussten Abschiednehmens, das vor allem für die, die weiterleben müssen, ein "Riesengeschenk" sei. Deshalb wünscht sich Gottschling jetzt das: "Zu wissen, man hat nur noch wenige Tage, aber noch Zeit, Dinge zu regeln." Und natürlich: keine Schmerzen. Denn das ist sein, ist Gottschlings Fach.

Seit 2010 leitet er als Chefarzt das Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums in Homburg, des größten Palliativversorgers in Deutschland. 1200 Patienten werden jährlich betreut, altersübergreifend "vom Baby bis zu Jopi Heesters", das ist europaweit einmalig, sagt Gottschling. Er hat 44 Mitarbeiter: Kunst- und Physiotherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter, die vier Therapiebegleithunde zählt er dazu. Zehn Betten stehen zur Verfügung für Menschen, die von Ärzten gehört haben: "Wir können nichts mehr für Sie tun." Dabei gilt: "Wir können noch ganz viel für Sie tun!" Das sagt ihnen dann Gottschling, der Wünsche-Erfüller, der einem Patienten, der kaum noch aus dem Bett kommt, ein Rollstuhl-Wettrennen auf dem Flur verspricht. "Spezialist für Lebensqualität" nennt er sich und ist darüber auch ein Fachmann fürs Trauern geworden. Was tut er? Zuhören, Ängste ernst nehmen, die Angehörigen stabilisieren, das letzte Himbeereis besorgen - er ist fürs gute "Leben bis zuletzt" zuständig. Das ist der Titel seines ersten Buches. Es steht auf der Spiegel-Bestsellerliste. Das zweite - "Schmerz los werden" - kommt im September raus, das dritte ist in Vorbereitung.

Ja, am Anfang steht das Wort. Wir sitzen in Gottschlings Villa-Kunterbunt-Büro im angejahrten Gebäude 69 des Uni-Campus. Der modisch flotte Mann, den die Studenten zum Dozenten des Jahres 2016 gewählt haben, spricht mit geschmeidig-schmeichelnder Stimme, formuliert erfrischend. Ein Kommunikationstalent. "Entschlafen" kommt in seinem Wortschatz nicht vor, Anekdoten und flotte Sprüche gehören dagegen zu Gottschlings Grundausstattung, wenn er die Patientenzimmer betritt. "Für diesen Job kann es nicht schaden, wenn man von Natur aus eine Frohnatur ist."

Wohl wahr. Die Hälfte von Gottschlings Patienten sterben auf Station. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt sieben bis acht Tage. Doch auch fünf Sterbefälle in 24 Stunden sind keine Seltenheit. Zuvor kämpfen die Menschen jahrelang mit unheilbaren Krankheiten wie Krebs oder ALS, sie werden von Erstickungs-Attacken gequält, haben nicht mehr heilende Bauchwunden, erbrechen sich fortwährend. "Kein Hund muss so leiden. Haben Sie nicht die Pferdespritze für mich?" - es sind nicht wenige, die Gottschling das zu Beginn ihres Aufenthaltes fragen. Und erfahren müssen, dass das Wünsche-Erfüllen Grenzen hat: "Die ungeeignetsten, um zu töten, sind die Ärzte. Das sollen Metzger tun, die haben das Töten gelernt."

Warum tut er sich all das Elend an? "Weil ich's aushalte." Und wegen Oma Ida. Die war 92, als sie starb. Zehn Tage lang. Enkel Sven, Student mit Berufsziel Notfallmediziner, saß am Bett und wurde gewahr, "dass die geballte Zuwendung heilender Medizin hier nicht mehr passend war". Er und seine Eltern fühlten sich als Störfaktoren. Zwischenzeitlich kann Gottschling fundiert kritisch sein mit der Hochleistungsmedizin: "Wir Mediziner sind vor allem toll in der Sterbensverhinderung", sagt er. Viele würden "übertherapiert", nicht selten auf eigenen Wunsch. Er kennt sie nur zu gut, die Kämpfer und Durchhalter, die dann auch genau so stürben: zäh, verbissen, selbstquälerisch.

Dass es anders geht, lernte Gottschling bei einem Tübinger Professor, der über die Betreuung sterbender Kinder forschte. Gottschling ging in eine Kinderkrebsklinik: "Mich zog es in die Zimmer derer, die die geringste Lebenserwartung hatten, in die kein anderer rein wollte. Ich bin hilfreich, ich habe da eine Stärke."

Und so sitzt Gottschling auch mal allein an einem Sterbebett und wartet auf den "magischen Moment". Er sei kein gläubiger Mensch, sagt er, aber es finde auch für ihn etwas statt, was der religiösen Vorstellung eines Weitexistierens nahe komme. Aber nach dem Sterben Gott begegnen? "Dann müsste ich ihm einen Tritt in die Weichteile verpassen. Denn fair geht's bei uns hier wirklich nicht zu." Und weil das so ist, dröhnt er sich regelmäßig mit Heavy-Metal-Musik zu, bei der sich andere den Frust aus Seele und Körper jaulen. Tatsächlich kam ihm in seinem Familien- und Freundes-Kreis das Sterben noch nicht allzu nahe. Doch auch er kennt das Gefühl existenzieller Erschütterung. Die größte war, als seine Frau bei der Geburt des vierten Kindes fast verblutet wäre und sein Sohn ebenfalls intensivpflichtig wurde. Da sprang ihn die Horrorvorstellung an: alleinerziehender, verwitweter Chefarzt mit vier Kindern…

Nach eigenem Bekunden ist er ein geselliger, lebensfroher Mensch, der zu Hause den Kochlöffel schwingt, zwei Hunde, drei Katzen und drei Meerschweinchen mitversorgt, gerne Feste feiert. Aber auch feste arbeitet. Fallbesprechungen, Familiengespräche, Cannabis-Sprechstunden, dazu Publikationen und Vorträge schreiben, Doktorarbeiten korrigieren, zu Kongressen reisen, im Förderverein für ein Kinderhospiz aktiv sein. Welch ein Pensum. Nicht sein Thema, solange er die Freude und Dankbarkeit seiner Patienten spürt, er jeden Abend heimkommt und feststellt: "Der Akku ist aufgeladen." Ein Wunder. Dafür muss man gebaut sein.

Zum Thema:

Palliativ-Angebot im Saarland weit vorn Rund 25 Prozent der Menschen in ihrem letzten Lebensjahr werden im Saarland palliativmedizinisch versorgt. Laut einer Bertelsmann-Studie liegt die Zahl der ambulanten Palliativ-Teams bei 6,1 pro eine Million Einwohner (Bund: 3,4). Auch beim Ausbau ambulanter Hospizdienste liegt das Saarland deutlich über dem Bundesschnitt.

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