Migrationspolitik Wird Ägypten zum Rettungsanker für die Flüchtlingspolitik?

Salzburg · In der Migration vollziehen die EU-Staats- und Regierungschefs eine beachtliche Wende: Die Verteilquote ist vorerst vom Tisch.

Jahrelang bemühte sich die EU um eine faire Verteilung der Lasten in der Flüchtlingskrise auf alle Mitgliedstaaten. Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Salzburg deutete sich gestern erstmals eine Wende an – Ägypten scheint bereit zu helfen.

Der österreichische Bundeskanzler nahm sich gestern Morgen besonders viel Zeit für die versammelten Medienvertreter. „Ich sage schon seit Jahren“, begann Sebastian Kurz, der beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Salzburg nicht nur Gastgeber, sondern auch EU-Ratsvorsitzender ist, „dass mit einer Verteilquote für Flüchtlinge die Probleme nicht gelöst werden“. Die Beratungen der Staatenlenker hätten dies wieder gezeigt: „Die Chance, dass eine Quote für jeden Mitgliedstaat in den nächsten Jahren eine Lösung ergibt, halte ich für überschaubar.“ Es gebe allerdings Regierungschefs, die das Thema weiter auf der Agenda halten wollten, „deshalb werden wir auch immer wieder darüber reden“.

Tatsächlich sieht die Mehrheit der EU-Länder den Schlüssel zur Beilegung dieses Streitpunktes an anderer Stelle: Möglicherweise schon bis zum Ende des Jahres soll der Ausbau von Frontex zu einer 10 000 Mann starken Küsten- und Grenzschutz-Truppe beschlossen werden. Das auf Wunsch Italiens eingefrorene Mandat der EU-Marinemission „Sophia“ könnte dann über die reine Seenotrettung hinaus auch auf das Aufbringen von Schlepperbooten ausgeweitet werden. Die geborgenen Flüchtlinge bringen die Einheiten nicht mehr in europäische Häfen, sondern nach Nordafrika. Auf diesen Vorstoß hatten sich die Staats- und Regierungschefs bereits im Juni verständigt. Neu ist: Am vergangenen Wochenende hat der ägyptische Staatschef Abd al-Fattah as-Sisi zugesagt, mit der EU zusammenzuarbeiten. Sollte man sich bei einem EU-Ägypten-Gipfel im Februar einig werden, würde Kairo die Migranten aufnehmen, so dass diese fortan nicht länger europäischen Boden erreichen. „Ausschiffungszentren“ heißen die geplanten Einrichtungen. Gedacht ist an eine Kopie des Modells, dass die Union seit drei Jahren mit Ankara praktiziert – und das zum Erliegen des Zustroms über türkisches Territorium geführt hat. Die positiven Signale aus Kairo, die as-Sisi offensichtlich am vergangenen Wochenende bei einem Besuch von Ratspräsident Tusk und dem österreichischen Kanzler Kurz gegeben hatte, wären im Falle einer belastbaren Zusage ein Durchbruch. Denn seit Monaten bemüht sich die EU um kooperationswillige Ansprechpartner im nordafrikanischen Raum. Aber bisher winkten die meisten Regierungen ab – ebenso übrigens wie die EU-Hauptstädte. Schließlich hätte Aufnahmezentren auch an den Küsten der Gemeinschaft entstehen können. Aber innerhalb der Union schimpfte zwar jeder auf jeden, aber keiner hob den Finger.

„Ich habe das so noch nicht erlebt“, sagte gestern ein erfahrener EU-Diplomat. Auf der einen Seite gebe es bei dem Thema Migration immer wieder Reibereien – auch wenn die Atmosphäre dieses Mal von allen Seiten als „erkennbar besser“ gelobt wurde. Auf der andere Seite aber stehe die EU 27 in „einzigartiger Weise geschlossen“, sobald es um den Brexit gehe.

In Salzburg vereinbarte man wie erwartet, den Gesprächen noch etwas mehr Zeit zu geben, um einen Kompromiss zu finden. Nun soll ein endgültiger Text bis November vorliegen und dann bei einem Sondergipfel gebilligt werden. Londons Premierministerin Theresa May wurde aufgefordert, neue Vorschläge für die zukünftige Gestaltung der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland auszuarbeiten. Denn das, was bisher vorliegt (eine Art Binnenmarkt für Industriegüter, so dass Kontrollen entfallen könnten), reicht der Union nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Man kann nicht zum Binnenmarkt gehören, wenn man nicht Teil des Binnenmarktes ist.“ Abgesehen davon hält sich ein großer Teil der Staats- und Regierungschefs immer noch an der Hoffnung fest, den Brexit abwenden zu können. Ein Mitglied der Runde bestätigte, dass sich „viele“ Staatenlenker für ein zweiten Referendum im Vereinigten Königreich ausgesprochen haben.

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