„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen . . .“

Prag · Eine friedliche Revolution läutet 1989 das Ende der deutschen Teilung ein. In einer Serie stellen wir in loser Folge Meilensteine auf dem Weg zum Mauerfall vor. Heute Teil 3: Hans-Dietrich Genscher und die Prager Botschaft.

"Freiheit. Freiheit. Freiheit." Es ist nur noch dieses eine Wort, das die DDR-Flüchtlinge an einem Septemberabend 1989 im verschlammten Garten der Bonner Botschaft in Prag rufen. Wieder und wieder. Sie blicken dabei hinauf zum spärlich beleuchteten Balkon des barocken Stadtpalastes. Sie warten auf Hans-Dietrich Genscher, den Außenminister der Bundesrepublik. Der FDP-Politiker bahnt sich gerade den Weg durch das überfüllte Botschaftsgebäude. Er geht vorbei an Kindern, Alten, Kranken und völlig Entkräfteten, die ihn mit hoffnungsvollen Blicken verfolgen, als er die große Treppe im Eingang des Palais Lobkowicz hinauf zum Balkon steigt. Zaghaft winken Genscher und Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU ), der ihn begleitet, den Menschen zu. Und dann sagt Genscher ihnen die ersehnten Worte: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise . . ." Weiter kommt Genscher nicht. Unbändiger Jubel bricht unter den 4000 Flüchtlingen aus. Es war der "Aufschrei der Erlösung", titelte die SZ.

Dem Erfolg der Diplomaten gingen seit August "pausenlose" Verhandlungen" voran. Die DDR-Führung pochte stets darauf, dass die Flüchtlinge zurück nach Ostberlin gehören. Das lehnte die Bonner Regierung rigoros ab. "Wir schicken niemanden auf die Straße, und wir bauen keine Mauern um unsere Botschaft", sagte Seiters damals dem Politbüro. Der "Massenexodus", so die SZ, der nach der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze eingesetzt hatte, riss indes nicht ab. Und die Zustände in der Prager Botschaft nahmen dramatische Dimensionen an. "Es gab keine freie Stelle mehr", erklärt die damalige Rotkreuz-Einsatzleiterin in der Botschaft, Waltraud Schröder. Oft fehlte es am Nötigsten. Stundenlanges Anstehen vor den Toiletten gehörte ebenso zum Alltag wie "Aggressionen" unter den zusammengepferchten Flüchtlingen. "Wir halten das hier nicht mehr aus", sagte einer der verzweifelten Regime-Flüchtlinge damals in die Kameras des Westfernsehens. Solche und viele weitere Bilder der Prager Botschaftsflüchtlinge gingen im Spätsommer vor 25 Jahren um die ganze Welt. "Sie schädigten Tag für Tag das internationale Ansehen der DDR ", weiß Seiters. Der Image-Schaden kam damals zur Unzeit für das SED-Regime. Es steckte mitten in den Vorbereitungen des 40. Jahrestags der Staatsgründung am 7. Oktober. Das Politbüro wurde sichtlich nervös, schilderten Diplomaten später. Den Durchbruch brachte aber erst ein Treffen Genschers mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am Rande der UN-Vollversammlung in New York: Genscher, der gerade einen Herzinfarkt hinter sich hatte, schilderte ihm das untragbare Leid der Flüchtlinge und bat den Reformer um Hilfe. Als der Georgier hörte, dass Kinder dabei seien, sagte er: "Ich helfe Ihnen." Ost-Berlin musste auf Druck des "großen Bruders" einlenken. Zwei Tage später reisten Genscher und Seiters in einer Bundeswehr-Maschine nach Prag .

Zwei Stunden nach der berühmten Balkon-Szene in Prag rollten schon die ersten Reichsbahnen der DDR nach Hof in Bayern. Allerdings durch Staatsgebiet der DDR . Der Umweg war die Bedingung des "realitätsfernen" Regimes (Genscher). Sie wollten ihre Souveränität bewahren und die Botschaftsflüchtlinge ausweisen. "Niemand weint ihnen eine Träne nach", sagte SED-Chef Erich Honecker noch vor der Abfahrt seinen Landsleuten.

Die Fahrt über Dresden, Freiberg, Chemnitz und Plauen war ein ungeschickter Schachzug. "Diese Züge durch die DDR fahren zu lassen - das war so, als wenn Sie jemanden mit einer brennenden Fackel durch eine Scheune schicken und sich dann wundern, wenn die Scheune brennt. Und die Scheune hat gebrannt!", sagte der heute 87-jährige Genscher jüngst. Überall in den Bahnhöfen kam es zu Tumulten. Die Menschen wollten auf die "Züge in Freiheit" aufspringen. Und die Soldaten Honeckers sie mit aller Gewalt daran hindern. "Das war ein Ausnahmezustand", beschreibt ein Mittzwanziger Reportern nach der Ankunft in Hof.

Honeckers Regime hielt allerdings Wort. Es ließ die Züge unbeschadet in den Westen rollen. Doch die Ausreise der Unzufriedenen brachte dem SED-Regime nicht die erhoffte Entlastung für die Feier. Der Druck wuchs. An die politische Tragweite der Schicksalstunden in Prag und der Triumphfahrt der Flüchtlinge durch die DDR dachte damals zwar noch niemand. "Der 30. September markiert den Beginn des Untergangs der DDR ", ist sich der heute 78-jährige Seiters sicher. Denn 40 Tage später öffnete SED-Funktionär Günter Schabowski die Mauer - eher ungewollt, mit einem weiteren Satz, der deutsch-deutsche Geschichte schreiben sollte: "Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich", sagte er zum neuen Reisegesetz und schaffte damit die Mauer ab.

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Zur PersonAls Kanzleramtsminister verhandelte Rudolf Seiters im September 1989 über die Ausreise von tausenden DDR-Flüchtlingen aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag . Der Blick vom Balkon des Palais Lobkowicz auf die Flüchtlinge und die Rotkreuz-Helfer im Garten war für ihn einer der emotionalsten Momente seines Lebens. Er habe auch heute noch große Achtung vor dem, was die Helfer vollbracht hätten, sagte Seiters. Es war für Seiters auch der Beweggrund nach mehr als 30 Jahren als Abgeordneter für die CDU im Bundestag, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes zu werden. Er ist die Stimme des DRK, wenn er Schutz für Ebola-Helfer oder die Einhaltung des Völkerrechts in der Ukraine einfordert. Dass im Zusammenhang mit der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge oft nur der Name des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher fällt, nimmt Seiters norddeutsch gelassen. "Das war ein Gemeinschaftswerk", sagt er und betont, dass es damals klare Zuständigkeiten gab.dpa

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