„Wir hörten unentwegt Knalle und Schüsse“

Die St. Ingberterin Almuth Müller hilft in einer Feldküche des Malteser Hilfsdienstes auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Die 18-Jährige, die in der Ukraine ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, hat in den vergangenen Tagen die Eskalation der Gewalt in der Hauptstadt hautnah miterlebt. Inzwischen ist sie in ihren Einsatzort, die 550 Kilometer entfernte Stadt Ivano-Frankivsk, zurückgekehrt. Hier ihr Bericht:

Eigentlich wollte ich länger bleiben. Im Malteserzelt in Kiew sah es für mich immer nach Ruhe und Ordnung aus und nach Schutz. Nachrichten habe ich dort keine geschaut. Als aber Marcel, mein Freiwilligenkollege, mich angerufen hat, habe ich mich zum Heimfahren entschlossen. Am Dienstagfrüh bin ich in meine Wohnung in Ivano-Frankivsk zurückgekehrt. Gestern Morgen erfahre ich dann, dass mein Bekannter Sergej unter den Erschossenen in Kiew ist. Sergej war Ukrainer armenischer Herkunft und erst 24 Jahre alt. Er war kein politisch Aktiver, aber er hat den Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz geholfen, Barrikaden zu errichten. Uns hat er in der Küche mit dem Holz geholfen.

Dort, auf dem Maidan, haben wir tagsüber ohne Pause für die Demonstranten gekocht. Alles arbeitet irgendwie zusammen, alle kennen uns. Es fällt schwer, mir jetzt vorzustellen, dass unser Zelt, die Barrikaden und das System im Ganzen irgendwie kaputt gehen könnten. Marcel hatte trotzdem Recht, die Situation als gefährlich einzuschätzen. Am Sonntag und Montagmorgen, als ich noch in Kiew war, haben wir unentwegt Knalle und Schüsse gehört. Ich bin an den Straßen vorbeigelaufen, in denen dann die Busse gebrannt und die Kämpfe stattgefunden haben. Mein Chef sagte zurecht, dass es auf die friedlichen Demonstrationen ja eben keinerlei Reaktion gegeben hat und dass man deshalb vielleicht die Strategie habe ändern müssen. Wir standen trotzdem weiter für die friedliche Demo auf dem Maidan. Aber ich denke, in vertauschter Rolle jetzt die Polizisten zu verprügeln, kann auch nicht richtig sein. Eben diese Gewalt haben die Menschen doch vorher kritisiert. Nicht nur vom Fernseher aus sehen die Straßenschlachten aus wie Krieg. Unsere Malteser, die einen Blick ins nächste Viertel gewagt haben, sind geschockt zurückgekommen.

Als wir am Montagabend losgefahren sind, hat sich der Sturm auf den Maidan schon angekündigt. Die Fahrt war schwierig diesmal. Zum einen waren die Straßen im Schnee versunken. Zum anderen konnten wir über Smartphone und soziales Netzwerk den Sturm live verfolgen. Ein paar Momente war es im Bus ziemlich still. Gott sei Dank haben die Barrikaden wieder standgehalten und die Demonstranten bis zum Morgen durchgehalten.

Leider sind gerade zu viele "gewaltbereite Demonstranten" in den Straßen, wie sie die deutschen Medien nennen. Die Eskalationen gefallen mir nicht. Trotzdem glaube ich, dass die deutschen Medien noch immer unzureichend informieren, auch wenn es mir leider ebenfalls noch immer nicht gelingt, mir auf Ukrainisch über alle Geschehnisse den Überblick zu verschaffen.

Berkut heißen die Sonderkommandos von Präsident Viktor Janukowitsch, die sich zu Tausenden sammeln und nat ürlich Angst verbreiten. Die "Tagesschau" vermutet außerdem noch "von der Regierung angeheuerte Schlägertrupps" in der Menge. Damit sind wohl die Tituschke gemeint, die für Geld provozieren sollen. Alle Ukrainer wissen über sie Bescheid, und dass sie da sind, ist sicher.

In der Nacht meiner Rückreise hat mich eine Freundin auf dem Laufenden gehalten: Vitali Klitschko war mit einer Demo aus Autos rund um die Stadt auf "Tituschke-Safari". Sie haben dann auch fünf Tituschkes gefangen und zur Rede gestellt. Die Tituschke werden mit 250 bis 300 ukrainischen Griwnjas (etwa 22 bis 26 Euro) bezahlt, um Autos und Schaufenster zu zerschlagen. Als Provokateure bezeichnen sich die Jungs auf dem Maidan auch untereinander im Scherz, wenn irgendetwas Deplatziertes oder Unnormales passiert. Ich als Deutsche galt schon öfter als Provokateurin. Auch wenn man als Einziger bei Wasser bleibt, während die anderen ein Bierchen trinken, muss man auf der Hut sein.

Hier in Ivano-Frankivsk bleibt für mich jetzt erstmal eine kurze Pause. Ruhe habe ich aber trotzdem nicht. Geschockt schaue ich mir über Live-Streams im Internet das Chaos in den Straßen von Kiew an: brennende Autos, Krankenwagen und Janukowitschs Sonderkommandos, die auf Menschen eindreschen und schießen.

Trotzdem hoffe ich immer noch, wieder nach Kiew fahren zu können. Was die neuen Demonstrationsgesetze der ukrainischen Regierung für den Malteser Hilfsdienst bedeuten, weiß ich noch nicht. Ob die Arbeit auf dem Maidan weitergeht, ist noch unklar.

Während ich im Malteserzelt Tee ausgeschenkt habe, haben mir Leute versprochen, auf jeden Fall bis zum Ende zu bleiben. Denen habe ich zurückversprochen, dass wir auf jeden Fall mit ihnen sein werden.

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HintergrundDie St. Ingberterin Almuth Müller ist seit dem 14. Juli 2013 als Sofia-Freiwillige (Sofia: Soziale Friedensdienste im Ausland) beim Malteser Hilfsdienst in der Ukraine. Eigentlich ist sie in der rund 550 Kilometer von Kiew entfernten Stadt Ivano-Frankivsk eingesetzt, wo sie ein Jahr lang unter anderem in Projekten mit Waisenkindern und Rollstuhlfahrern mitarbeitet. Allerdings wurden in Kiew viele Helfer benötigt. Im Bistum Ivano-Frankivsk richteten die Trierer Malteser im Jahr 1991 eine Armenküche ein. Sie gründeten auch den dortigen Caritasverein, der mittlerweile die Trägerschaft der Armenküche übernommen hat. Die Malteser sind heute vor allem in der Arbeit mit Behinderten, Jugendlichen und in der Ausbildung tätig. red

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