"Wir haben echt Angst gehabt"

Bonn. Es gibt Tage in der Geschichte von Städten, die sich einbrennen ins Gedächtnis ihrer Bewohner wie Brandeisen ins Pferdefell. In Hamburg war es die große Flut von 1962, in Berlin der Bau und der Fall der Mauer und in Dresden der verheerende Großangriff alliierter Bomber in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, bei dem mindestens 18 000 Menschen starben

Bonn. Es gibt Tage in der Geschichte von Städten, die sich einbrennen ins Gedächtnis ihrer Bewohner wie Brandeisen ins Pferdefell. In Hamburg war es die große Flut von 1962, in Berlin der Bau und der Fall der Mauer und in Dresden der verheerende Großangriff alliierter Bomber in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, bei dem mindestens 18 000 Menschen starben. In Bonn klopfte das Schicksal am 20. Juni 1991 zwar unblutig an, doch schienen die Folgen ähnlich umstürzend zu sein. An jenem Tag fasste der Deutsche Bundestag den Beschluss, die Regierungsgeschäfte in die alte und neue Hauptstadt Berlin zu verlegen - wenn auch mit knapper Mehrheit (338 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn).",Der Schrecken war sehr groß", räumt die Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) ein. "Am Morgen danach war Schweigen über der Stadt." Über 40 Jahre lang hatten wichtige oder bloß bedeutsam klingende Nachrichten meist mit dem selben Wort begonnen: "Bonn - . . ." Doch damit war es nun zu Ende. Dieckmann, in Leverkusen geboren, wäre keine Rheinländerin, wenn sie dieses Thema kalt ließe. Doch gegen die Stadt an der Spree habe sie nichts - darauf besteht sie. "Berlin ist eine wunderbare, lebendige Großstadt, vielleicht die einzige Metropole in Deutschland", urteilt die 60-Jährige, die meist bedächtig und druckreif formuliert. Die Wiedervereinigung sei eine "riesige Freude" auch für die Bonner gewesen. Doch zwingend findet sie den Umzug der Regierung auch im Rückblick nicht. "Es gab gute Gründe für Bonn und für Berlin als Regierungssitz", sagt Dieckmann. Am Ende habe die Vorliebe der PDS für die Stadt im Osten den Ausschlag gegeben. Doch noch immer wird - zumindest ein bisschen - auch in Bonn regiert. Immerhin arbeitet etwa jeder zweite Beschäftigte der Bundesregierung am Rhein. Als Stadtoberhaupt wäre Dieckmann schlecht beraten, für den umstrittenen Totalumzug zu werben. "Berlin als einer 3,5-Millionen-Stadt werden weitere 7000 Beamten nichts nützen", findet sie jedenfalls. Mehr Einwohner, mehr JobsWie zum Trost - und wie Bern in der Schweiz - darf sich Bonn seit Jahren offiziell "Bundesstadt" nennen. So verkünden es auch die Ortsschilder, auf denen zuvor nur "Stadt Bonn" stand. Dieckmann erinnert hier gerne an das Wort eines Fotografen, der einmal bemerkt habe: "Bundesstadt - das ist wie eine Ehefrau, die den Namen ihres Ex-Mannes nach der Scheidung annimmt." Der Umzug tausender Bundesbeschäftigter hat Bonn am Ende nicht geschadet - unterm Strich gilt vermutlich das Gegenteil. Gegenüber gut 144 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 1998, also dem Jahr vor dem Regierungsumzug, sind es nach Dieckmanns Angaben derzeit rund 165 000, demnach fast 20 000 mehr (Beamte jeweils nicht mitgezählt). Und ihre Stadt sei eine der wenigen bundesweit mit Geburtenüberschuss: Seit zwei Jahrzehnten werden in Bonn mehr Kinder geboren, als Menschen sterben. Viele junge Paare sind wegen vergleichsweise gut bezahlter und interessanter Stellen hierher gezogen - in eine attraktive Landschaft ohnehin. Wer hier Wohnungen mietet oder Häuser kauft, spürt die hohe Nachfrage. Nach dem Umzugsbeschluss "hatten wir Angst, dass die Immobilienpreise abstürzen", sagt Dieckmann. Das Gegenteil ist der Fall. Obwohl in Bonn nicht nur viele Gutverdiener, sondern auch die wohlhabendsten Pensionäre Nordrhein-Westfalens leben, trägt die Stadt schwer an ihrer Schuldenlast. Ende 2008 hatte sie Verbindlichkeiten in Höhe von über 1,3 Milliarden Euro angehäuft - fast 4200 Euro pro Bürger. Schuldzinsen und sonstige Finanzaufwendungen in Höhe von 63 Millionen Euro im Jahr 2008 schränken den Gestaltungsspielraum ein. Zudem sind die jährlichen Zahlungen des Bundes nach 2004 weggefallen, nachdem zehn Jahre lang insgesamt 1,44 Milliarden Euro als Ausgleich für die Lasten des Regierungsumzugs geflossen waren.Doch Bonn schaut zuversichtlich in die Zukunft und wuchert ohnehin mit seinem guten Ruf als weltoffener Sitz der Vereinten Nationen. In Blickweite zum Siebengebirge leben Menschen aus 179 Nationen; der Ausländeranteil beträgt 23,5 Prozent. Insgesamt ist Bonn keine darbende Geisterstadt geworden, sondern wächst weiter: Aus den derzeit rund 316 000 Einwohnern sollen nach amtlichen Prognosen bis 2025 etwa 341 000 werden. Bonn, eine Stadt mit Perspektive.

Auf einen BlickVor zehn Jahren ist der Bundestag von Bonn nach Berlin gezogen. Eine Chronik in 9 Daten:1. Der Bundestag trifft am 20. Juni 1991 knapp die Berlin-Entscheidung mit 338 zu 320 Stimmen 2. Am 19. Juni 1992 wird ein Architekturwettbewerb zum Umbau des Reichstages gestartet3. Mit dem Umbau wird Star-Architekt Sir Norman Foster im Sommer 1993 beauftragt4. Nach der Reichstagsverhüllung im Sommer 1995 beginnt am 6. Juli der Umbau des Hauses5. Die erste Sitzung des Bundestages in Berlin ist am 19. April 19996. Im Juli 1999 rollen 24 Züge mit 50 000 Kubikmetern Umzugsgut des Bundestages von Bonn nach Berlin7. Mehr als 11 000 Meter Akten sowie 36 000 Bücher kommen vom Rhein an die Spree 8. Der Bundestag nimmt am 6. September 1999 im umgebauten Reichstagsgebäude seine reguläre Arbeit auf 9. Seit dem Umzug nach Berlin wurden mehr als 15 Millionen Besucher im Reichstag gezählt. ddp

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